Anschlag auf die Wirklichkeit

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Hamburg, Marktstraße 12 – das wurde in den Siebzigern zur Adresse der Avantgarde. Eine Erinnerung an Hilka Nordhausens legendäres Kunstprojekt „Buch Handlung Welt“.

Drei Stufen ging es hoch zur Buch Handlung Welt. Marktstraße 12, im Hamburger Karolinenviertel. Ein kleines Handwerker- und Arbeiterquartier, eingezwängt zwischen Heiligengeistfeld, Messegelände und Schlachthofhallen. Hinter der Kasse saß eine Frau mit Brille und halblangen, glatten Haaren, die den Eintretenden je nach Tagesform mal mürrisch, mal mäßig freundlich anschaute. Und die sich dann wieder wortlos in irgendeine Schrift vertiefte.

Um sie herum fragile Regale, die unter der Last der Kunstkataloge und Bildbände zusammenzubrechen drohten, dazu Unmengen an Drucken, Heften, Broschüren, Taschenbüchern, die in wirren Stapeln halbhohe Tische bedeckten. Und nicht zuletzt saßen und standen da die notorischen Gäste – Kunden wäre das definitiv falsche Wort –, die alles schon gelesen hatten, was man lesen musste, und die sich alle untereinander zu kennen schienen und jeden Nichteingeweihten mit offensiver Nichtbeachtung straften.

„Ich kam 1977 als unwissender Junge aus der Kasseler Provinz und landete unter völlig eingebildeten, hochnäsigen Kunststudenten, welche die Buchhandlung quasi bewohnten“, sagt der Übersetzer und zeitweilige Verleger Michael Kellner, der damals bei der Buch Handlung Welt mitmachen wollte.

Gegründet hatte sie ein Jahr zuvor die Künstlerin Hilka Nordhausen. Sie war 1949 in Hamburg zur Welt gekommen, hatte eine Drogistenlehre gemacht, sich dann aber der Kunst verschrieben. Bei Gerhard Rühm und Franz Erhard Walther studierte sie, verabschiedete sich von der Malerei und wandte sich der Konzeptkunst zu. Ihr Laden sollte alles andere als eine klassische Buchhandlung werden. „Buch Handlung Welt war mein Anschlag auf die Wirklichkeit“, schrieb sie später rückblickend in einer Art Manifest. „Wir wollten ›action‹ in den Kunstmief bringen, die Macht der Galerien brechen.“

Ihr Angebot konzentrierte sich auf Dadaismus, Surrealismus, Bauhaus, Pop-Art und Fluxus, auf die Strukturalisten und Poststrukturalisten und die Postmodernen. Davon gab es dann jeweils alles, noch aus den kleinsten Verlagen und entlegensten Pressen der Welt, während das Unterhaltsame und Konsumierbare konsequent fehlte. Dazu kamen die Lesungen, Kunstaktionen, die Filme.

 

Jeden Monat gab es neue Kunst für die Wände

 

Einmal im Monat wurde eine der Stirnwände bearbeitet: Albert Oehlen und Werner Büttner, frisch von der Akademie, fertigten hier ihre erste gemeinsame Arbeit; Martin Kippenberger stieß bald hinzu. Charly Wüllner und Norbert Schwontkowski nahmen sich die Wand vor, ebenso Walter Dahn und Jiří Georg Dokoupil. Illuster auch die Namen der Vortragenden: Vlado Kristl zum Beispiel (der mit seiner vierstündigen Lesung noch den letzten willigen Besucher vertrieb), Jane Kerouac kam vorbei, Ted Joans und Anne Waldman lasen und natürlich Allen Ginsberg. 105 Lesungen, 27 Filmabende, 19 Performances gab es vor der ständig sich wandelnden Wand; am Ende waren es 82 murale Werke.

Künstlergruppen tagten und trennten sich wieder; Karrieren starteten oder verliefen im Sande. Kurzum, die Buch Handlung Welt war für Jahre ein energetisch aufgeladener Experimentierclub, auf der Suche nach dem Neuen, dem Anderen – während die bürgerlichen Kunstfreunde noch dabei waren, diesen Beuys zu verdauen. Und bevor mit den Jungen Wilden und ihrer Malerei ein nächstes, vergleichsweise übersichtliches Kapitel aufgeschlagen wurde.

Die „Welt“ lockte interessante Nachbarn an: Drei Straßenecken weiter eröffnete mit dem Rip off 1979 einer der ersten Punkplattenläden der Republik. Das andere Epizentrum wurde die Kneipe Marktstube. Hier formierten sich Bands wie Abwärts (deren erste, wegweisende LP bezeichnenderweise Amok/Koma heißt). Auch der Musiker Holger Hiller, Gründer von Palais Schaumburg, wohnte im Viertel; ebenso Alfred Hilsberg, der später das Wort von der „Neuen Deutschen Welle“ prägte und Bands wie Einstürzende Neubauten veröffentlichte.

 

Ein Fotokopierer für die Selbstverleger

 

Nebenan lebte auch der hoffnungsvolle Filmemacher Oliver Hirschbiegel: „Dem habe ich damals Baudrillards Merve-Heftchen Cool Killer – Der Aufstand der Zeichen verkauft, und heute macht er Zeug wie Der Untergang und Diana! Schon seltsam“, sagt Ulrich Dörrie, aufgewachsen im Emsland, der im Sommer 1981 einstieg. Und die Künstlerin Bettina Sefkow, bald mit Hilka Nordhausen eng befreundet (und heute ihre Nachlasshüterin), blickt ein wenig melancholisch auf das Viertel zurück: „Es gab Brandmauern und Brachen; es gab noch keine Graffiti, keine Plakatwände, die heute so selbstverständlich sind – du hast damals jeden Flyer neu erfunden.“

Denn noch etwas sorgte für Schwung, ein Gerät: Der Fotokopierer trat in das Leben der Künstler. „Wir hatten plötzlich ein Produktionsmittel in der Hand“, lacht Dörrie. Wer etwas sagen oder zeigen wollte und wem das Verhandeln mit den Verlagen zu zeitraubend war, musste nicht mehr Wachsmatrizen mit Spiritus tränken, musste nicht mehr in Offset-Druckereien um einen Preisnachlass betteln. Er konnte einfach machen.

„Neu! Fotokopie: –,50“ stand etwa in krakeliger Schreibschrift im Frühjahr 1978 auf der Fensterscheibe der Buchhandlung. Und drinnen fand sich alles, was es an Selbstverlegtem zwischen Freiburg und Flensburg gab, an Fanzines, an gehefteten Gedichtbändchen und selbst gebastelten Kunsteditionen. Etwa dreihundert verschiedene mehr oder weniger regelmäßig erscheinende Publikationen sollen zwischenzeitlich ausgelegen haben. Je seltsamer, desto lieber: die Loose Blätter Sammlung aus Kassel gehörte dazu, Der Gummibaum oder Gasoline 23 aus Frankfurt, Der fröhliche Tarzan aus Köln, die Ulcus Molle Info vom Bottroper Kommissariat für den literarischen Underground nicht zu vergessen.

Doch wer sollte das alles kaufen? Wer sich in der Buch Handlung Welt eindeckte, stand oft selbst am nächsten Tag am Kopierer und fertigte irgendetwas, das dann in der Buch Handlung Welt angeboten wurde. Es war, als würden sich dreihundert Friseure treffen, um sich gegenseitig die Haare zu schneiden. „Dieser WIDERLICHE buchladen liegt in einer noch widerlicheren seitenstraße im bezaubernden KAROLINENVIERTEL und ist total eingeschneit. Diese woche der tägliche umsatz zwischen 10 und 30 demark IHR OBEROCHSEN“, schrieb Nordhausen etwa im Winter 1979 einem Buchvertrieb, der es wagte, Bezahlung anzumahnen.

Und doch hatte sich die Adresse herumgesprochen. Von überall her kamen Kenner, um hier rare Bücher zu entdecken. Allerdings gab es beim Kauf Regeln zu beachten. Als ein Herr mit Goldrandbrille und C-4-Sakko, einen Bildband aus venezianischem Kleinstverlag in der Hand, zu handeln versuchte, schwieg Nordhausen nur und knurrte dann zurück: „Für dich Arsch kostet es das Doppelte.“

 

1.000 Mark aus dem Nichts

 

Andere Möglichkeiten, zur Querfinanzierung besser Betuchten das Geld abzunehmen, wurden ignoriert. „Als sich Dieter Roth ankündigte, ein Wandbild zu gestalten, haben sie zu Hilka gesagt: ›Mensch, da legst du eine Folie drunter, da malt dann der Roth was drauf, hinterher löst du die Folie ab, verkaufst die, dann ist dein Laden saniert.‹ Aber da kannten die ihre Hilka schlecht!“, erzählt Übersetzer Kellner. Ihr Konzept war das der unverkäuflichen Kunst. Im Gegenzug wurde niemand im Laden bezahlt. „Doch!“, sagt Kellner. „Einmal habe ich 1.000 Mark bekommen; irgendwer war zu Geld gekommen und hat es in die ›Welt‹ gesteckt.“ Er denkt nach, fragt dann: „Wovon habe ich damals eigentlich gelebt?“

Nach sieben Jahren mussten Nordhausen und ihre Mitstreiter einsehen: Die „Welt“ war pleite. Man probierte noch, Remittenden von Suhrkamp und anderen Taschenbuchverlagen zu verhökern, aber das machten damals alle Buchläden, besonders die links und rechts der Hamburger Uni. „Hilka hat zuletzt noch versucht, eine ausgebildete Buchhändlerin mit ins Boot zu holen. Die kam aus dem eher traditionell linksfeministischen Bereich – die beiden Frauen haben sich getroffen, haben sich angeschaut und gesagt: ›Das lassen wir mal lieber‹ “, erzählt Dörrie. „Das Ganze war zu sehr Kunst, und wir waren alle keine Geschäftsleute.“

Im Dezember 1983 kam dann der Ausverkauf. „So konnten wenigstens die Rechnungen der Lieferanten bezahlt werden, und Hilka ist ohne Schulden rausgekommen“, sagt Dörrie. Es endete mit einem letzten Kunstwerk: Hubert Kiecol, heute Professor an der Düsseldorfer Akademie, fräste drei lebensgroße Figuren in die immer wieder übermalte Wand und arbeitete sich so durch die Biografie der Buchhandlung. Silvester war alles vorbei.

Hilka Nordhausen ging nach Köln und weiter nach Berlin, schrieb, zeichnete, konzipierte und näherte sich wieder der Malerei an. Eine Krebserkrankung warf sie nieder, sie starb am 1. Dezember 1993, nur 44 Jahre alt. Da war ihr vielleicht schönstes Werk schon seit zehn Jahren Geschichte.

 

Schmelztiegel von Literatur, Kunst und Film

 

Für Uwe Schneede, langjähriger Direktor der Hamburger Kunsthalle und Ende der siebziger Jahre Leiter des dortigen Kunstvereins, wurde in der Marktstraße tatsächlich Geschichte gemacht. „Was mich dort besonders faszinierte, war das Beieinander von Literatur, bildender Kunst und Film.“ Also holte er Mitglieder der in der „Welt“ beheimateten Künstlergruppe „Boa Vista“ in sein Haus: „Beim ersten Mal waren alle sehr betrunken, aber beim zweiten Mal war es eine spannende und sehr exakte Mischung aus Lesung, Performance und Konzert, die man so vorher noch nicht erlebt hatte.“

Heute, wie könnte es anders sein, residiert in den einstigen Räumen eine Boutique; aus der legendären Marktstube wurde ein Bioladen, und das ganze Viertel mit seinen Design- und Modeläden gilt inzwischen als Touristenmeile. Doch die Buch Handlung Welt, drei Stufen hoch, ist unvergessen und für die Nachgeborenen längst eine Legende.

 

Erschienen in Die Zeit vom 31.12.2014

Reichlich Prügel

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Hinz&Künztler Günter wurde jahrelang in norddeutschen Kinderheimen gequält und misshandelt. Erst jetzt, nach mehr als 50 Jahren, kann er darüber sprechen – und auf  ein wenig Gerechtigkeit hoffen. Aber kann man Unrecht wiedergutmachen?

Günter hat einen Traum. „Ich möchte ein Mal in meinem Leben auf die Füße kommen“, sagt er leise. „Und einen Motorbootschein, den hätte ich gern.“ Mit seinen freundlichen Augen, dem weißen Haarkranz und der adretten Kleidung wirkt er wie der nette Rentner von nebenan. Doch ein normales Leben hat der 65-Jährige kaum kennengelernt. Schon mit acht Jahren begann sein Leidensweg durch zahlreiche Kinder­heime. All die Prügel, die Lieblosigkeit, die Günter erleiden musste, haben Spuren hinterlassen. „Richtig Fuß gefasst habe ich nie, mein ganzes Leben nicht“, sagt er knapp.

Über seine Vergangenheit zu sprechen fällt dem zurückhaltenden Mann schwer. „Wer möchte schon an all die Jahre erinnert werden, in denen er so schlimm behandelt wurde. Ich wollte das alles vergessen“, gibt er zu. Doch als zu Jahresbeginn in Hamburg – wie in allen anderen Bundesländern – die erste Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder eingerichtet wurde, kam alles wieder hoch. Günter war einer der Ersten, die sich dort meldeten. Die Beratungsstelle soll Menschen wie ihm dabei helfen, Ansprüche auf Wiedergutmachung geltend zu machen.

Durch den Besuch bei der Beratungsstelle kommt einiges in Bewegung. Günter greift in seine Umhängetasche, holt drei Briefumschläge heraus. Der erste: eine Einladung zum Empfang des Sozialsenators Detlef Scheele für ehemalige Heimkinder im Hamburger Rathaus. Schön gedruckt, auf edlem Papier. „Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg möchte Ihnen gegenüber offiziell zum Ausdruck bringen, dass er das ­Ihnen zugefügte Unrecht zutiefst bedauert“, ist zu lesen. Günter hat die Einladung angenommen. Er ist gespannt, was ihn erwartet: „Sich nach 50 Jahren entschuldigen, das kann doch nicht alles sein, oder?“, fragt er.

Sein Leben im Heim beginnt, da ist er acht Jahre alt. Seine Mutter lehnt ihn ab, behandelt ihn lieblos, verwöhnt aber seine Geschwister. Sein Vater sitzt ­immer wieder im Gefängnis. Die Eltern lassen sich scheiden. Er schwänzt die Schule. Das Jugendamt nimmt ihn aus der Familie, schickt ihn in ein Kinderheim bei Volksdorf, dann geht es weiter nach Stade an der Elbe. Warum der Wechsel? Günter weiß es nicht; man hat es ihm nie erklärt. „Insel“ heißt das neue Heim. „Das Heim war eigentlich ganz okay“, erzählt er mit seiner leisten Stimme. „Wenn es bei Stade geblieben wäre, wäre es vielleicht nicht so schlimm ­gekommen. Aber ich hatte immer ­solches Heimweh. Ich hab einfach nicht begriffen, dass meine Mutter mich nicht haben wollte.“

Er haut immer wieder ab, versucht nach Hamburg zu seiner Mutter zu ­gelangen. Er fängt an zu klauen. Nichts Großes; Kleinigkeiten. Er kommt nach Hannover, in das ­Stephansstift, ein evangelisches  Kinderheim.

Günter öffnet den zweiten Briefumschlag. Er hat in Hannover nachgefragt, ob es Akten über ihn gibt, die erklären könnten, warum er dorthin kam. „Aufgrund der Eintragungen können wir ­Ihnen lediglich bestätigen, dass Sie sich aus pädagogischen Gründen in der ­Betreuung des Stephansstiftes befanden“, antwortet ihm die heutige Geschäfts­leitung. „Was waren das denn für ­pädagogische Gründe?“, fragt Günter und schnaubt durch die Nase.

Beigelegt ist dem Schreiben ein Auszug aus dem Stammbuch des Heimes, eine Art Meldekarte. Günter schiebt sie über den Tisch. Der Karte ist zu ­entnehmen, dass Günter im Alter von zwölf Jahren nach Hannover kam und man ihn schon eine Woche später in das Kinderheim Borstel bei Nienburg an der Weser verlegt. „Prügel gab es in Borstel reichlich“, erinnert sich Günter. „Morgens hatten wir Schule; Schularbeiten gab es nicht – denn nachmittags mussten wir bei einem Bauern auf dem Feld schuften.“ Auch aus Borstel haut er mehrmals ab. Alleine und mit anderen. „Zusammen mit A. und J. entwichen – 2 Fahrräder gestohlen – abends durch die Polizei ­zurück“, ist im April 1959 notiert.

Im Januar 1962 ein rätselhafter ­Eintrag: „KH; schlaffe Haltung, leichte Wachstumsstörung.“ Günter nimmt die Meldekarte wieder an sich: „KH, das heißt Krankenhaus“, erklärt er. „Da war ich im Annastift, im Kinderkrankenhaus von Hannover, durfte ewig lange im Gipsbett schlafen, denn in Borstel hatte mir der Bauer, bei dem ich arbeiten musste, eine Mistforke in den Rücken geworfen.“ Ein bitteres Lächeln huscht über sein Gesicht: „Muss man doch ­verstehen, dass die das nicht so aufschreiben konnten, vielleicht hätte ­jemand nachgefragt – also hatte ich eben eine schlaffe Haltung.“ Er wird wieder gesund. Wird 15. Haut wieder ab: „Auf der Autobahn  zwischen Helmstedt und Braunschweig aufgegriffen und dem Stephansstift ­zugeführt.“ Dann ein letzter Eintrag im November 1962: „Entwichen – kehrt nicht zurück.“

Günter wird erwischt, er kommt nach Hamburg, wird weitergereicht nach Glückstadt an der Elbe. Das Jugendamt aus Hamburg bringt ihn hin. „Die hatten dafür eigens einen VW-Bus.“ Er war ­damals fünfzehneinhalb. Glückstadt also. Glückstadt hat damals ­eines der schlimmsten Heime. „Unter den Nazis „Landesarbeitsanstalt“, seit 1949 dann „Landesfürsorgeheim“. Große Teile des Personals werden nach dem Krieg einfach weiterbeschäftigt: „Ich kann mich noch gut an die Hakenkreuze und den Reichsadler erinnern, die in die Matratzen und in die Bettdecken eingeprägt waren.“

Günter muss für eine Glückstädter Firma Fischernetze knüpfen. Einen Lohn gibt es nicht. Nur manchmal ein paar Zigaretten. Wer aufbegehrt, wer den Erziehern widerspricht, wird nicht selten verprügelt und mit wochenlanger Einzelhaft in einer Isolierzelle im Keller bestraft. „Da unten saß ich auch“, sagt Günter fast lapidar. „Und mit dem Totschläger eins übergezogen bekommen, das hab ich auch erlebt.“ Er holt tief Luft: „Allein während des einen Jahres, in dem ich in Glückstadt war, sind dort fünf von uns ums Leben gekommen.“ ­Mitzöglinge, die die Misshandlungen durch die Aufseher, aber auch die Gewalt unter­einander nicht mehr aushalten und sich das Leben nehmen.

Immer wieder gerät Glückstadt in die Schlagzeilen, soll geschlossen werden – und immer verläuft alles im Sande. Auch die Stadt Hamburg spielt eine unrühmliche Rolle: Statt selbst zu überlegen, wie man mit den nicht immer einfachen Jugendlichen ­klarkommen und wie man ihnen helfen kann, schiebt man sie über die Landesgrenze nach Glückstadt ab und überlässt sie dort ihrem Schicksal. Als das Heim 1974 endlich geschlossen wird, bedauert dies die Hamburger Jugendbehörde ausdrücklich. Noch mal 30 Jahre verstreichen, bis endlich eine Historikergruppe die Geschichte dieses Heimes systematisch erforscht. Und die Sozialpolitiker sind entsetzt, dass das, was die Glückstädter Heimkinder immer erzählt haben, stimmt. „Glückstadt war der krönende Abschluss“, sagt Günter lakonisch. „Glückstadt, das war im Regal ganz oben.“

Bleibt noch der dritte Brief­umschlag: eine Abschrift des Protokolls, das der Sachbearbeiter der Hamburger Beratungsstelle für ­ehemalige Heimkinder nach Günters Besuch verfasst hat. Der Sachbearbeiter dort hat ihm geholfen: „Der war korrekt. Der hat mir ­zugehört und der hat mir geglaubt.“

Das Angebot, unter fachlicher Anleitung über seine Erlebnisse zu sprechen, hat er ­ausgeschlagen: „Ich weiß, die würden das aus dem Fonds bezahlen, aber Psychologen sind für mich ein rotes Tuch. Überhaupt alles, was mit Erziehung zu tun hat.“ Sich mit ehe­maligen Heimkindern zu treffen, ist auch nicht sein Ding. Er faltet seine Unterlagen zusammen, steckt die Bögen in die Umschläge, packt alles zurück in seine Umhängetasche.

Nach der Entlassung aus Glückstadt, er ist sechzehneinhalb Jahre alt, fährt er zur See. Und er wird immer wieder straffällig: „Seefahrt – Knast – Seefahrt – Knast – Seefahrt – Knast, das war’s.“ Den Motorbootschein, den wünscht er sich, weil er doch sein halbes ­Leben zur See gefahren ist. Den würde er sich mit dem Geld aus dem Entschädigungsfonds leisten: „Und einen Führerschein würde ich gern machen. Ich hatte noch nie einen.“ ­Inzwischen hat er die Kostenvoranschläge bei der Beratungsstelle vorbeigebracht. „Die ­Namen der Heimleiter, die Namen der ­Erzieher, der Name des Sachbearbeiters ­damals hier beim Hamburger Jugendamt, der das alles angerichtet hat, die haben sich mir natürlich alle eingebrannt“, sagt er noch und rückt seine Brille zurecht. Er hätte sie gerne persönlich gefragt, was sie sich damals gedacht haben, als sie ihn von Heim zu Heim schickten. Er war doch noch ein Kind! Aber die meisten sind nicht mehr am Leben oder sie sind nicht auffindbar. „Ich hab mal bei dem Bauern in Borstel angerufen, wo ich damals schuften musste – also natürlich beim Sohn vom Sohn“, erzählt Günter. „Der hatte zwar gehört, dass sein Großvater Kinder aus einem Heim beschäftigt haben soll, aber ­Genaueres wusste er auch nicht.“

Vielleicht wird er im Stephansstift ­fündig. Dort hat man ihm zugesichert, im Archiv nachzuschauen, ob nicht wenigstens Unterlagen zu seiner Konfirmation vorhanden sind. Günter ist gespannt, ob und was sie finden werden. Es müsste ein Konfirmationsfoto geben, hat er überlegt. „Gerade die ­Kirche schmeißt doch eigentlich nichts weg, oder?“ Und überhaupt: „Hat man mich zur Goldenen Konfirmation eingeladen?“ Das hat man nicht. Es wäre eine Geste gewesen, die ihm gutgetan hätte. Und eine Möglichkeit, Unrecht ein wenig wiedergutzumachen. Denn dazu braucht es vor allem Respekt.

Schätzungsweise 600.000 bis 800.000 Kinder und Jugendliche waren in der alten Bundesrepu­blik zwischen 1945 und 1975 in Heimen untergebracht. Zum 1.1.2012 wurde die Einrichtung eines Entschädigungsfonds in Höhe von 120 Millionen Euro beschlossen. Davon bezahlt werden sollen Therapien, individuelle Hilfen, die wissenschaft­liche Aufarbeitung dieser Zeit sowie die Erstattung von nicht gezahlten Rentenabgaben. Für die etwa 400.000 ehemaligen DDR-Heimkinder steht ab 1.7.2012 ein Fonds von 40 Millionen Euro zur Verfügung. Das sind 100 Euro pro Betroffenem. 

Buchtipp: Landesfürsorgeheim Glückstadt 1949–74, Hrsg. Irene Johns und Christian Schrapper, Wachholtz Verlag, 24,80 Euro.

Erschienen in Hinz&Kunzt, Heft Juli 2012

Verbrauchermarkt frisst Geschichte

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Die südliche Altstadt von Bremervörde soll mit einem fensterlosen Verbrauchermarkt überbaut werden. Noch steht dort ein Haus aus ehemals jüdischem Besitz, das eine Bürgerinitiative bewahren will

Wenn die Lehrerin Petra Fischer und der ehemalige Lehrer Klaus Volland durch die Innenstadt von Bremervörde schlendern, werden sie oft gegrüßt. Mancher bleibt stehen und wechselt mit ihnen das eine und andere Wort. Andere erkennen sie zwar, gehen oder radeln aber schnell weiter. „Ich war hier lange so etwas wie der Bürgerschreck“, sagt Klaus Volland. Er klingt, als wäre es ihm nicht unrecht.

Dass beide heute stadtbekannt sind, dürfte daran liegen, dass sie sich mit der NS-Geschichte Bremervördes beschäftigten, als das noch als störend galt: Fischer hat einen Stadtrundgang zur jüdischen Geschichte der Stadt erarbeitet, der sich mittlerweile aber einiger Beliebtheit erfreut. Volland wiederum hat gegen viel Widerstand dafür gesorgt, dass die Baracken des nahe gelegenen ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Stalag Sandbostel nicht abgerissen wurden. Heute bilden sie das Fundament einer Forschungs- und Gedenkstätte, auf die man in Bremervörde plötzlich nicht wenig stolz ist.

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