Reichlich Prügel

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Hinz&Künztler Günter wurde jahrelang in norddeutschen Kinderheimen gequält und misshandelt. Erst jetzt, nach mehr als 50 Jahren, kann er darüber sprechen – und auf  ein wenig Gerechtigkeit hoffen. Aber kann man Unrecht wiedergutmachen?

Günter hat einen Traum. „Ich möchte ein Mal in meinem Leben auf die Füße kommen“, sagt er leise. „Und einen Motorbootschein, den hätte ich gern.“ Mit seinen freundlichen Augen, dem weißen Haarkranz und der adretten Kleidung wirkt er wie der nette Rentner von nebenan. Doch ein normales Leben hat der 65-Jährige kaum kennengelernt. Schon mit acht Jahren begann sein Leidensweg durch zahlreiche Kinder­heime. All die Prügel, die Lieblosigkeit, die Günter erleiden musste, haben Spuren hinterlassen. „Richtig Fuß gefasst habe ich nie, mein ganzes Leben nicht“, sagt er knapp.

Über seine Vergangenheit zu sprechen fällt dem zurückhaltenden Mann schwer. „Wer möchte schon an all die Jahre erinnert werden, in denen er so schlimm behandelt wurde. Ich wollte das alles vergessen“, gibt er zu. Doch als zu Jahresbeginn in Hamburg – wie in allen anderen Bundesländern – die erste Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder eingerichtet wurde, kam alles wieder hoch. Günter war einer der Ersten, die sich dort meldeten. Die Beratungsstelle soll Menschen wie ihm dabei helfen, Ansprüche auf Wiedergutmachung geltend zu machen.

Durch den Besuch bei der Beratungsstelle kommt einiges in Bewegung. Günter greift in seine Umhängetasche, holt drei Briefumschläge heraus. Der erste: eine Einladung zum Empfang des Sozialsenators Detlef Scheele für ehemalige Heimkinder im Hamburger Rathaus. Schön gedruckt, auf edlem Papier. „Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg möchte Ihnen gegenüber offiziell zum Ausdruck bringen, dass er das ­Ihnen zugefügte Unrecht zutiefst bedauert“, ist zu lesen. Günter hat die Einladung angenommen. Er ist gespannt, was ihn erwartet: „Sich nach 50 Jahren entschuldigen, das kann doch nicht alles sein, oder?“, fragt er.

Sein Leben im Heim beginnt, da ist er acht Jahre alt. Seine Mutter lehnt ihn ab, behandelt ihn lieblos, verwöhnt aber seine Geschwister. Sein Vater sitzt ­immer wieder im Gefängnis. Die Eltern lassen sich scheiden. Er schwänzt die Schule. Das Jugendamt nimmt ihn aus der Familie, schickt ihn in ein Kinderheim bei Volksdorf, dann geht es weiter nach Stade an der Elbe. Warum der Wechsel? Günter weiß es nicht; man hat es ihm nie erklärt. „Insel“ heißt das neue Heim. „Das Heim war eigentlich ganz okay“, erzählt er mit seiner leisten Stimme. „Wenn es bei Stade geblieben wäre, wäre es vielleicht nicht so schlimm ­gekommen. Aber ich hatte immer ­solches Heimweh. Ich hab einfach nicht begriffen, dass meine Mutter mich nicht haben wollte.“

Er haut immer wieder ab, versucht nach Hamburg zu seiner Mutter zu ­gelangen. Er fängt an zu klauen. Nichts Großes; Kleinigkeiten. Er kommt nach Hannover, in das ­Stephansstift, ein evangelisches  Kinderheim.

Günter öffnet den zweiten Briefumschlag. Er hat in Hannover nachgefragt, ob es Akten über ihn gibt, die erklären könnten, warum er dorthin kam. „Aufgrund der Eintragungen können wir ­Ihnen lediglich bestätigen, dass Sie sich aus pädagogischen Gründen in der ­Betreuung des Stephansstiftes befanden“, antwortet ihm die heutige Geschäfts­leitung. „Was waren das denn für ­pädagogische Gründe?“, fragt Günter und schnaubt durch die Nase.

Beigelegt ist dem Schreiben ein Auszug aus dem Stammbuch des Heimes, eine Art Meldekarte. Günter schiebt sie über den Tisch. Der Karte ist zu ­entnehmen, dass Günter im Alter von zwölf Jahren nach Hannover kam und man ihn schon eine Woche später in das Kinderheim Borstel bei Nienburg an der Weser verlegt. „Prügel gab es in Borstel reichlich“, erinnert sich Günter. „Morgens hatten wir Schule; Schularbeiten gab es nicht – denn nachmittags mussten wir bei einem Bauern auf dem Feld schuften.“ Auch aus Borstel haut er mehrmals ab. Alleine und mit anderen. „Zusammen mit A. und J. entwichen – 2 Fahrräder gestohlen – abends durch die Polizei ­zurück“, ist im April 1959 notiert.

Im Januar 1962 ein rätselhafter ­Eintrag: „KH; schlaffe Haltung, leichte Wachstumsstörung.“ Günter nimmt die Meldekarte wieder an sich: „KH, das heißt Krankenhaus“, erklärt er. „Da war ich im Annastift, im Kinderkrankenhaus von Hannover, durfte ewig lange im Gipsbett schlafen, denn in Borstel hatte mir der Bauer, bei dem ich arbeiten musste, eine Mistforke in den Rücken geworfen.“ Ein bitteres Lächeln huscht über sein Gesicht: „Muss man doch ­verstehen, dass die das nicht so aufschreiben konnten, vielleicht hätte ­jemand nachgefragt – also hatte ich eben eine schlaffe Haltung.“ Er wird wieder gesund. Wird 15. Haut wieder ab: „Auf der Autobahn  zwischen Helmstedt und Braunschweig aufgegriffen und dem Stephansstift ­zugeführt.“ Dann ein letzter Eintrag im November 1962: „Entwichen – kehrt nicht zurück.“

Günter wird erwischt, er kommt nach Hamburg, wird weitergereicht nach Glückstadt an der Elbe. Das Jugendamt aus Hamburg bringt ihn hin. „Die hatten dafür eigens einen VW-Bus.“ Er war ­damals fünfzehneinhalb. Glückstadt also. Glückstadt hat damals ­eines der schlimmsten Heime. „Unter den Nazis „Landesarbeitsanstalt“, seit 1949 dann „Landesfürsorgeheim“. Große Teile des Personals werden nach dem Krieg einfach weiterbeschäftigt: „Ich kann mich noch gut an die Hakenkreuze und den Reichsadler erinnern, die in die Matratzen und in die Bettdecken eingeprägt waren.“

Günter muss für eine Glückstädter Firma Fischernetze knüpfen. Einen Lohn gibt es nicht. Nur manchmal ein paar Zigaretten. Wer aufbegehrt, wer den Erziehern widerspricht, wird nicht selten verprügelt und mit wochenlanger Einzelhaft in einer Isolierzelle im Keller bestraft. „Da unten saß ich auch“, sagt Günter fast lapidar. „Und mit dem Totschläger eins übergezogen bekommen, das hab ich auch erlebt.“ Er holt tief Luft: „Allein während des einen Jahres, in dem ich in Glückstadt war, sind dort fünf von uns ums Leben gekommen.“ ­Mitzöglinge, die die Misshandlungen durch die Aufseher, aber auch die Gewalt unter­einander nicht mehr aushalten und sich das Leben nehmen.

Immer wieder gerät Glückstadt in die Schlagzeilen, soll geschlossen werden – und immer verläuft alles im Sande. Auch die Stadt Hamburg spielt eine unrühmliche Rolle: Statt selbst zu überlegen, wie man mit den nicht immer einfachen Jugendlichen ­klarkommen und wie man ihnen helfen kann, schiebt man sie über die Landesgrenze nach Glückstadt ab und überlässt sie dort ihrem Schicksal. Als das Heim 1974 endlich geschlossen wird, bedauert dies die Hamburger Jugendbehörde ausdrücklich. Noch mal 30 Jahre verstreichen, bis endlich eine Historikergruppe die Geschichte dieses Heimes systematisch erforscht. Und die Sozialpolitiker sind entsetzt, dass das, was die Glückstädter Heimkinder immer erzählt haben, stimmt. „Glückstadt war der krönende Abschluss“, sagt Günter lakonisch. „Glückstadt, das war im Regal ganz oben.“

Bleibt noch der dritte Brief­umschlag: eine Abschrift des Protokolls, das der Sachbearbeiter der Hamburger Beratungsstelle für ­ehemalige Heimkinder nach Günters Besuch verfasst hat. Der Sachbearbeiter dort hat ihm geholfen: „Der war korrekt. Der hat mir ­zugehört und der hat mir geglaubt.“

Das Angebot, unter fachlicher Anleitung über seine Erlebnisse zu sprechen, hat er ­ausgeschlagen: „Ich weiß, die würden das aus dem Fonds bezahlen, aber Psychologen sind für mich ein rotes Tuch. Überhaupt alles, was mit Erziehung zu tun hat.“ Sich mit ehe­maligen Heimkindern zu treffen, ist auch nicht sein Ding. Er faltet seine Unterlagen zusammen, steckt die Bögen in die Umschläge, packt alles zurück in seine Umhängetasche.

Nach der Entlassung aus Glückstadt, er ist sechzehneinhalb Jahre alt, fährt er zur See. Und er wird immer wieder straffällig: „Seefahrt – Knast – Seefahrt – Knast – Seefahrt – Knast, das war’s.“ Den Motorbootschein, den wünscht er sich, weil er doch sein halbes ­Leben zur See gefahren ist. Den würde er sich mit dem Geld aus dem Entschädigungsfonds leisten: „Und einen Führerschein würde ich gern machen. Ich hatte noch nie einen.“ ­Inzwischen hat er die Kostenvoranschläge bei der Beratungsstelle vorbeigebracht. „Die ­Namen der Heimleiter, die Namen der ­Erzieher, der Name des Sachbearbeiters ­damals hier beim Hamburger Jugendamt, der das alles angerichtet hat, die haben sich mir natürlich alle eingebrannt“, sagt er noch und rückt seine Brille zurecht. Er hätte sie gerne persönlich gefragt, was sie sich damals gedacht haben, als sie ihn von Heim zu Heim schickten. Er war doch noch ein Kind! Aber die meisten sind nicht mehr am Leben oder sie sind nicht auffindbar. „Ich hab mal bei dem Bauern in Borstel angerufen, wo ich damals schuften musste – also natürlich beim Sohn vom Sohn“, erzählt Günter. „Der hatte zwar gehört, dass sein Großvater Kinder aus einem Heim beschäftigt haben soll, aber ­Genaueres wusste er auch nicht.“

Vielleicht wird er im Stephansstift ­fündig. Dort hat man ihm zugesichert, im Archiv nachzuschauen, ob nicht wenigstens Unterlagen zu seiner Konfirmation vorhanden sind. Günter ist gespannt, ob und was sie finden werden. Es müsste ein Konfirmationsfoto geben, hat er überlegt. „Gerade die ­Kirche schmeißt doch eigentlich nichts weg, oder?“ Und überhaupt: „Hat man mich zur Goldenen Konfirmation eingeladen?“ Das hat man nicht. Es wäre eine Geste gewesen, die ihm gutgetan hätte. Und eine Möglichkeit, Unrecht ein wenig wiedergutzumachen. Denn dazu braucht es vor allem Respekt.

Schätzungsweise 600.000 bis 800.000 Kinder und Jugendliche waren in der alten Bundesrepu­blik zwischen 1945 und 1975 in Heimen untergebracht. Zum 1.1.2012 wurde die Einrichtung eines Entschädigungsfonds in Höhe von 120 Millionen Euro beschlossen. Davon bezahlt werden sollen Therapien, individuelle Hilfen, die wissenschaft­liche Aufarbeitung dieser Zeit sowie die Erstattung von nicht gezahlten Rentenabgaben. Für die etwa 400.000 ehemaligen DDR-Heimkinder steht ab 1.7.2012 ein Fonds von 40 Millionen Euro zur Verfügung. Das sind 100 Euro pro Betroffenem. 

Buchtipp: Landesfürsorgeheim Glückstadt 1949–74, Hrsg. Irene Johns und Christian Schrapper, Wachholtz Verlag, 24,80 Euro.

Erschienen in Hinz&Kunzt, Heft Juli 2012