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Selja Ahava: „Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm“. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Mare Buch, Hamburg; 224 Seiten, 20 Euro

I.

Man kann es sich ganz einfach machen und jetzt schreiben: „Der Roman ‚Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm“ von Selja Ahava erzählt von der Alzheimererkrankung einer gewissen Anna, die am Ende ihres Lebens angekommen in einem Altenheim wohnt und dort von Gott in Strümpfen besucht wird, der mit ihr einen letzten Spaziergang unternimmt“. Damit würde sich dieses Buch mühelos einreihen lassen in eine Flut anderer Romane, in denen deren Protagonisten an Alzheimer erkranken – zum Schrecken und Erschrecken ihrer Zeitgenossen, also auch uns. Denn wenn es etwas gibt, das uns derzeit so sehr in Panik und eben Schrecken versetzt, dann die Vorstellung, all dass, was wir ein Leben lang an Informationen, Erfahrungen und Eindrücken sammeln und für das wir mittlerweile eine hochtechnologische Speicherindustrie entwickelt haben, könnte sich am Ende in ein Wirrwarr von letzten, immer brüchiger werdenden Gedanken und dann Halbsätze und dann voneinander isoliert dastehenden Worten auflösen. Download fehlgeschlagen, sozusagen. Festplatte – leider leer. Keine Daten mehr lesbar; wirklich nicht. Und dafür haben wir all diesen Aufwand betrieben? Haben uns ständig geschult und gelernt und gelernt, damit wir auch das nächst neue Medium beherrschen, während früher (ach, ja, früher) ein Fotoalbum reichte, ein Diakasten, ein Stapel zusammengebundener Briefe und vielleicht das gute alte Tagebuch.

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„Mann, war das ein geiler Sommer!“

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Früher war nicht unbedingt alles besser. Aber früher gab es den Sperrmüll. Alle drei Monate stellte man seinen ausrangierten Krempel auf die Straße – und schaute, was die anderen dazupackten. Eine Erinnerung an ein rauschendes Fest im Sommer 1983.
Ach Sperrmüll! War das damals wunderbar. Alle waren bei Einbruch der Dämmerung auf den Beinen, zogen durch ihren Stadtteil auf der Suche nach Schätzen, nach irgendetwas Brauchbarem oder auch nur, um zu staunen, was die Leute einmal im Quartal so alles wegwarfen, das man doch noch gut gebrauchen konnte oder das einfach schrill und lustig war.

Erst war es ein kleiner Haufen, der sich an irgendeiner Straßenecke bildete. Dann wurde er nach und nach größer, kam plötzlich ins Rutschen, wurde sofort gestützt durch weitere Matratzen, Schrankwände, Lampenschirme, Klobecken oder Bettgestelle. Dazwischen jede Menge Krimskrams – Geschirr, Kleidung, Gardinen. Mit etwas Glück konnte man alles beherzt auf einen gefundenen Kinderwagenuntersatz packen, selbst wenn der nur noch drei Räder hatte, und nach Hause fahren.

Klar, es ging auch ums Geldsparen. Ich wohnte damals auf St. Pauli in einer Wohngemeinschaft, wir waren meistens gut gelaunt, aber das Geld war eher knapp. Ständig war etwa die Waschmaschine kaputt. Und welch Wunder, wenn wie bestellt der Nachbar eine Waschmaschine hinaustrug und halblaut zu uns sagte: „Nehmen Sie die ruhig mit, die tut’s noch, aber meine Frau wollte unbedingt eine neue.“ Und während er aufstöhnte, die Augen verdrehte, packten wir schon an und hatten wieder 100 D-Mark gespart, die so ein Teil beim Elektrotrödler gekostet hätte. Und dann der Triumph gegenüber den anderen Sperrmüllsuchern, die zu spät um die Ecke kamen und so taten, als würden sie sich über einen zerschlissenen Läufer freuen, der zwischen Brettern und Matratzen hervorlugte.

 

„Sperrmüll, 1983“ heißt ein neues Fotobuch des Hamburger Fotografen Thomas Henning, der mit seinen Bildbänden „Straßenfotos – Hamburg um 1975“ und „Schanze, 1980“ so trefflich den Wandel unserer innenstädtischen Viertel dokumentiert hat. Nun hat er erneut sein Fotoarchiv gesichtet und Farbfotos aus dem Sommer 1983 hervorgeholt.

Damals fuhr er mit seinem Mini Cooper abends kreuz und quer durch die Stadt, hielt in Altona und auf St. Pauli, beobachtete aber auch in Mümmelmannsberg oder den Elbvororten die Menschen, wie sie begeistert durch den Sperrmüll zogen: Junge und Alte, Urhamburger und frisch Eingewanderte, Amateure und Profis, die sich den Sperrmüllhaufen stets mit einer Taschenlampe näherten und die Handschuhe trugen. „Im Karolinenviertel flogen schon mal die Matratzen aus dem Fenster“, erinnert sich Thomas Henning. „Und St. Georg war noch ein sehr spannender, sehr durchmischter Stadtteil.“ Überhaupt: Im Vergleich zu heute sei Hamburg noch schwer proletarisch gewesen.

„Mann, war das ein geiler Sommer“, sagt er plötzlich. Es sei eine Superstimmung gewesen. Und alle, die er abbilden wollte, ließen sich ohne zu zögern fotografieren. Er schaut auf seine Fotos, zeigt auf die Gehwege, die Straßen und es fällt sofort auf, wie ruhig und gelassen die Stadt wirkt: „Obwohl überall Sperrmüll lag, war es für mich zum Beispiel nie ein Problem, einen Parkplatz zu finden. Das ist heute bei dem Verkehr und der dichten Bebauung undenkbar.“

Er selbst sei damals nicht der typische Sperrmüllsammler gewesen, dennoch sind ihm diese bis heute keinesfalls fremd: „Fotografen wie ich verhalten sich nicht groß anders als die Sperrmüllsucher. Wir sind auf der Suche nach Schätzen, die andere achtlos liegen lassen, und heben sie.“

 

Ach ja – die Schätze! Man stieß beim Kramen nicht nur auf jede Menge Tische, Stühle oder kleine Schränkchen mit verzierten Leisten, die wir mitnahmen in der Vorstellung, wir könnten sie gebrauchen. Oft war in beigestellten Kartons oder abgeschabten Kunstlederkoffern auch überaus Persönliches zu entdecken: Briefe, Fotoalben, Diakästen, wo uns unbekannte Menschen zeigten, wie sie 1963 vorm Hermannsdenkmal standen oder zehn Jahre später in der Altstadt von Palma de Mallorca. Super-Acht-Filme von Kindergeburtstagen oder Ausflügen nach Hagenbeck erlaubten Einblicke in fremde Leben.

Ich erinnere mich an einen Stapel Kassetten, auf denen ein Mann mit müder, brüchiger, aber trotzdem zorniger Stimme sein Leben nacherzählte. Er hatte sich offenbar mit seiner ganzen Familie überworfen. Selbst auf einer Beerdigung hatte er seinen Kassettenrekorder mitlaufen lassen: Man hörte den Singsang des Pfarrers und unterdrücktes Schluchzen, das in der Kapelle sehr nachhallte. Ein Klicken, die Aufnahme war beendet, eine kurze Pause, dann sprach wieder der Mann: „Diese scheinheilige Bande, verrecken sollen sie! Alle!“

 

1983 war – auch das sieht man sofort auf Hennings Bildern – ein überaus heißer Sommer; ein Jahrhundertsommer mit Temperaturrekorden. Es ist ein intensives, besonderes Jahr: Helmut Kohl gewinnt im Frühjahr die Wahl, die Grünen ziehen erstmals in den Bundestag ein. Der „Stern“ veröffentlicht die Hitler-Tagebücher, die Bundesregierung vermittelt der DDR einen Milliardenkredit, Udo Lindenberg tritt im Palast der Republik auf und mehr als eine Million Menschen demonstrieren im Herbst gegen den NATO-Doppelbeschluss: „Heißer Herbst“ wird folglich das Wort des Jahres. In Hamburg wird die Rockergruppe „Hells Angels“ verboten und ihr Vereinslokal in der Schanzenstraße dank des größten Polizeieinsatzes der Nachkriegszeit geschlossen. Aus der Deponie Georgswerder sickern Dioxine ins Grundwasser und Hamburg hat seinen bis heute größten Umweltskandal, der HSV gewinnt die Deutsche Fußballmeisterschaft. Und der Sommerhit des Jahres war „Sunshine Reggae“ von dem heute längst vergessenen Popduo Laid Back, der mit seinem banalen, aber swingenden Refrain so gut passte, wenn wir noch spät in der Nacht nur im T-Shirt und in abgeschnittenen Jeans unterwegs waren, mit dem Sperrmüllkalender in der Hand, der uns den Weg in das richtige Viertel wies. Wobei Sperrmüll nicht nur ein Vergnügen für uns Erwachsene war: Es war auch ein Paradies für die Kinder, die sich mit den gefundenen Sachen verkleideten, die auf Matratzen turnten oder auf den damals modischen Sitzsäcken herumsprangen, bis sie platzten und die Styroporkugeln nur so über den Gehweg rollten. „Man durfte Sachen kaputtmachen“, sagt Thomas Henning mit einer gewissen Inbrunst in der Stimme.

Natürlich gab es den Morgen danach: Wenn wir das des Nachts im Flur Abgestellte nun in der Nüchternheit des Tageslichtes betrachteten und es schleunigst wieder runter auf die Straße zu den auseinandergetretenen Sperrmüllbergen brachten. Wo wir uns natürlich sofort wieder umschauten: Denn es gab diese Leute, die morgens in aller Frühe ganz heimlich ihren Sperrmüll zum Sperrmüll brachten, weil sie aus irgendwelchen Gründen nicht wollten, dass man in ihren Sachen wühlte – gewissermaßen die Nachlese.

 

Und dann kamen sie und machten alles kaputt. Man hörte schon von Weitem das Brummen des Müllwagens und das Geräusch, wenn die Hydraulik angeworfen wurde, die Presse sich in Gang setzte und Holz zersplitterte, Glas zerbrach und Metall sich verbog. Die Party war zu Ende.

Heute fährt man seinen Sperrmüll jeweils für sich alleine auf einen Recyclinghof, wo das Mitgebrachte in aller Nüchternheit in verschiedene Wertstoffkategorien eingeteilt wird (und wehe, man legt Holz in den Container mit dem Elektroschrott!). Das ist bestimmt sinnvoll, und ich will da gar nichts gegen sagen. Aber es ist so vernünftig, so durchdacht und auch ein wenig langweilig. Denn mit den Sperrmüllnächten ist auch so vieles andere verschwunden: die Autoschrauber in den Hinterhöfen, die Drogerien mit ihrem Krimskrams, die Wäschestangen, an denen die Bettwäsche flatterte, die Brachen, wo Jugendliche in aller Ruhe Unsinn machen und sich ausprobieren konnten und die heute ausnahmslos bebaut sind. Thomas Henning sagt: „Wollen wir denn in einer Stadt wohnen, die aussieht wie die Bildschirmoberfläche eines Rechners, wo der Müll in einem Ordner versteckt ist?“

 

In den letzten Jahren habe ich manchmal einen Müllwagen gesehen, der mit Stofftieren drapiert war. Große, kleine, blitzeblaue oder bärenbraune Stofftiere klemmten hinter der Stoßstange oder im Gestänge, wo man die Müllcontainer einrastet, um sie leerzuschütteln. Eben noch in einem Kinderzimmer zu Hause, dann in den Müll geworfen und nun fuhren sie stolz durch die Stadt, denn – da bin ich ganz sicher – in jedem tätowierten und muskelbepackten Müllwerker steckt ein kleiner Junge und damit ein Sucher und ein Retter. Aber auch dieser Müllwagen, als letzter Gruß aus paradiesischen Zeiten des Sperrmülls, ist inzwischen verschwunden. So vieles verschwindet; ich finde, eine gewisse Melancholie ist da durchaus angebracht. Thomas Henning schließt seinen Laptop, auf dem er seine Bilder gespeichert hält, atmet tief ein und sagt zum Abschluss: „Dabei macht doch das Chaos das Leben interessant, nicht das Geordnete.“

 

Thomas Henning: Sperrmüll, 1983; Junius Verlag, 112 Seiten, 19,90 Euro.

 

Erschienen in Hinz&Kunzt, Ausgabe 254, April 2014.

„Notaufnahme ist super!“

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Ein Gespräch mit dem Mediziner Dr. Johannes Wimmer über seine drei-Minuten-Videos, Sex trotz künstlichem Hüftgelenk und einen österreichischen Bergbauern.

Erstmal bin ich verwirrt: In der medizinischen Praxis sind Sie „Dr. Wimmer“, im Netz aber „Dr. Johannes“.Wie kommt’s?

Die Idee für „Dr. Johannes“ kam, weil das der Scherzbegriff ist, wenn Freunde, Bekannte oder Kollegen mal was brauchen. Die sagen dann nicht: „Dr. Wimmer“, die sagen auch nicht „Johannes“, die sagen „Dr. Johannes“. Mir gefällt das, denn es drückt die Nähe aus, die oft zwischen Arzt und Patient fehlt. So gesehen ist „Dr. Johannes“ für alle da und nicht nur für die Nachbarn, für die ich nachts zur Notapotheke fahre, weil die sagen: ‚Notaufnahme? Muss das sein?‘ Und so möchte ich sein, ich bin ja auch sehr ansprechbar über die sozialen Medien wie Twitter, Facebook, und als „Dr. Johannes“ stelle ich mich auch auf meinem Videoblogg vor. Bei der Anrede „Dr. Wimmer“ fühle ich mich wie auf einem Podest, so wahnsinnig weit weg. Und nur „Johannes“, das ist wiederum zu nah, denn es geht ja schon ums ärztliche, wenn mir jemand twittert.

 

Sie fahren für Ihre Nachbarn zur Notapotheke? Sie trennen nicht strikt Beruf und Privat?

Ich mache das, was ich tue so, weil ich auch als Privatperson so bin. Ich bin frei Schnauze und bin auch gerne für Leute da. Ich behandele ja andere Menschen so, wie ich selber behandelt werden möchte. Ich versuche allerdings die Familie rauszuhalten. Für meine Frau ist diese Öffentlichkeit, die ich suche, gar nichts. Aber unsere Dackel, die dürfen mit aufs Foto. Gestern war bei einer unserer Töchter eine Mandel-OP, da habe ich ein Foto gepostet, wie sie da liegt mit der Braunüle in der Hand, einfach um das zu zeigen und ich habe dazu auch geschrieben, wie ich mich gefühlt habe: Als Arzt und Papa ist man manchmal nur Papa. Und ich schreibe das auch, weil ich weiß, es kommt viel Nähe und Menschliches zurück.

 

Ärztliche Heilkunst und Internet, nicht jeder kriegt das zusammen. Wie geht’s?

Vorneweg: Die Patientenreise beginnt heute online. Es zwickt was – und man fragt Dr. Google, was das sein könnte. Und ganz typisch und menschlich: Die Menschen suchen mich nachts um drei. Die können mich ja auch tagsüber anrufen oder anschreiben. Aber sie sind dann unterwegs, wenn keiner da ist, wenn es mit der Ablenkung nicht mehr klappt, wenn die Ängste groß sind. Und dann freuen sie sich: Da spricht einer mit mir. Da ist einer da. Auch wenn es ein Video ist.

 

Wie sind Sie überhaupt zur Medizin gekommen?

Ach, ich hab mich erstmal nicht getraut. Weil ich dachte, ich bin zu doof. Ich hab mein Abitur mit Kunst- und Englischleistungskurs gerade so hingebogen, alle Naturwissenschaften hatte ich vorher abgewählt. Aber dieses Handwerk in der Medizin! Meine Mutter kommt von einem kleinen Bauernhof im Münsterland, alle aus der Familie sind Handwerker und dieser Lebensart des Anpackens, des Machens und auch mal etwas derbe sagen, dem fühlte ich mich immer sehr verbunden – und nicht der akademischen Welt. Ich hatte mich erst für Volkswirtschaft eingetragen und bin bei den Medizinern nur so mitgeschluppt. Bis mir einer von den Medizinstudenten sagte: ‚Das, was wir machen, kann auch ein Affe im Anzug. Du musst dich nur hinsetzen und ackern und lernen.‘ Das hab ich dann gemacht: hab‘ nächtelang Chemie durchgeackert. War überhaupt nicht meins – aber ich habe mir gesagt: Irgendwo ist das Licht. Das Licht am Ende des Tunnels! Chemie, Physik, Anatomie, Biochemie – das sind Werkzeuge, die muss man können. Und so sage ich das heute jungen Leuten: Ihr müsst das machen, was euch Spaß macht! Nur dann setzt ihr euch mal eine Nacht lang hin und oder büffelt eine Woche lang für irgendwelche Prüfungen.

 

Und was hat Sie dann ins Internet gezogen?

Das kam aus einer gewissen Not heraus. Ich habe in Hamburg jahrelang in verschiedenen Krankenhäusern und Praxen gearbeitet, unter anderem in einer kleinen radiologischen Stadtteilpraxis in Barmbek. Da kamen so richtige Barmbeker Typen, die auch mal über ihre Probleme sprechen wollten – aber ich merkte: Ich habe gar keine Zeit. Obwohl ich bei einem Radiologen gearbeitet habe, der sagte: ‚Ich schüttel jedem Patienten die Hand! Egal ob privat oder nicht.‘ Ich hab dann angefangen den Leuten schnell zu erklären, was ihr Problem ist, um ihnen dann zu sagen: ‚Wenn Sie zu Ihrem behandelden Arzt zurückgehen, stellen Sie ihm bitte diese und jene Frage.‘ Und irgendwann habe ich gemerkt: Ich erzähle ja immer das Gleiche. Was ich sage, ist für 90 Prozent aller meiner Patienten gültig. Idealerweise würde da ein Bildschirm hängen, wo all das schon mal erklärt wird. Und ich als Arzt bin dann für die zehn Prozent zuständig, die bei jedem unterschiedlich sind und habe genau dafür genug Zeit. Und diese medizinischen Grundlagen versuche ich in meinem Video-Blogg zu vermitteln, in drei-Minuten-Videos.

 

Und Sie sind gleichzeitig in der realen Welt als Arzt tätig?

Im Prinzip ja, im Moment nicht. Ich habe bis November in einer kleinen Hamburger Klinik gearbeitet, aber nun sind wir noch mal Eltern geworden, und ich mache gerade Elternzeit. Unsere Kleine ist jetzt fünf Monate alt und wenn es Richtung Kita geht, werde ich mir sicher neben meiner Internetpraxis wieder einen Job suchen, denn ich vermisse das jetzt schon. Meine Idealwoche sieht so aus: zwei, drei Tage in irgendeiner Klinik sein, aber tagesaktuell arbeiten. Vielleicht Radiologie, doch so wie ich es will und nicht irgendwo in einem Keller im Akkord die Röntgenbildern runterrocken. Oder Notfallmedizin. Notaufnahme ist überhaupt super!

 

Notaufnahme ist super?

Es ist wahnsinnig intensiv und unmittelbar. Sie erleben das menschliche Wesen pur. Ich bin in Südafrika in den Townships Notarzt gefahren, da war das einzige, was ich bei mir hatte, eine Sauerstoffflasche. Also, du fährst in ein Township, die Polizei biegt vorher ab, sagt nur: ‚Ihr fahrt da jetzt rechts weiter, wir nicht und viel Glück‘. Und dann kommst du in eine Wellblechhütte, da sitzen 30 Leute, in der Mitte das Familienoberhaupt, eine ältere Frau auf einer Art Thron und und vor ihr ein Mädchen, das hat gerade einen richtig schweren epileptischen Anfall. Und dann sagt man dir: ‚Die ist vom Tokoloshe besessen‘. Tokoloshe das ist so ein kleiner, zwergähnlicher Teufel, deswegen schlafen die Menschen in leicht erhöhten Betten, damit er sie nicht befallen kann. Ich wusste nur: Ich muss dieses Mädchen entstigmatisieren! Damit sie aus dem Krankenhaus zurück in die Familie kann; damit es nicht heißt: ‚Das ist eine Befallene!‘ Ich hab dann so getan, als hätte sie eine Verletzung und nicht einen Anfall; ich weiß gar nicht mehr, wie ich das hingekriegt habe! Jedenfalls, das ist dann richtig Medizin: Mit nix in der Hand die Situation akzeptieren, so wie sie ist – und handeln.

 

Überhaupt nicht so dramatisch, dafür recht lustig ist Ihr aktuelles Video zu Sex bei künstlichen Hüftgelenken. Was hat Sie zu diesem Thema geführt?

Mir tun die Menschen so leid! Es ist ein Scheißthema! Erst dürfen die Menschen nach der OP ewig nicht und wenn sie dann dürfen, dann dürfen sie nur in einer Stellung und zwar für immer. Und es spricht keiner mit ihnen drüber! Dann versuche ich doch lieber mit den Menschen darüber zu lachen, auch um ihnen zu vermitteln: Lieber eingeschränkter Sex mit künstlicher Hüfte, als gar kein Sex, weil die Hüfte so weh tut.

 

Sie sprechen in Ihren Videos durch die Kamera ja nicht nur zu den Patienten, sondern immer auch zu Ihren Kollegen …

Ich werde manchmal von Ärzteportalen wie DocCheck oder Medscape angefragt. Dann sage ich denen: Ich möchte nicht ein Video für den Arzt machen und danach eines für den Patienten, sondern wenn, dann muss es für beide sein. Der Gedanke ist ja: die Distanz verringern. Ich will das Ärzte und Patienten zusammenkommen. Dafür hüpfe ich sonstwo rum, sei es RTL-Explosiv oder auch im Tele-Shopping. Weil: Da ist die Frau in der Mark Brandenburg, ganz hinten links. Die hat nur ihren Fernseher. Mit der spricht keiner. Und wenn ich ihr etwas Medizinisches auf unterhaltsame Weise erklären kann, etwa, was ein grippaler Infekt und was eine Grippe ist, was spricht dagegen? Ich möchte lieber zehn Prozent Inhaltstiefe für 100 Prozent erklären, als 100 Prozent für zehn Prozent. Das muss man nicht gut finden, wird auch kontrovers diskutiert, aber das ist mein Weg. Mein Motto ist: Medizin ist Hausverstand! Deswegen muss es jeder verstehen und dann kann es auch jeder anwenden. Es bringt doch nichts, wenn ich einem Patienten mein Wissen auflade, der das aber nicht versteht, der hat ja nicht Medizin studiert. Es gibt Untersuchungen, dass Patienten nur ein Drittel des Gespräches mit ihrem Arzt verstehen. Ja, wie soll sie dann dessen Ratschläge umsetzen?

 

Ihre Videos sind von verblüffender Einfachheit ohne technischen Firlefanz: Sie sprechen in die Kamera wie zu einer Person. Und Sie gehen auch mal kurz aus dem Bild, um eine Skizze zu holen, kommen dann wieder, halten die ins Bild …

Ich nutze die Technik, aber ich mag sie nicht. Sie ist auch nicht wichtig. Mein Stativ hab ich zur standesamtlichen Hochzeit vor ein paar Jahren geschenkt gekriegt; als Kamera habe ich einen kleinen Camcorder, so ein 300-Euro-Ding, das man bei Ebay heute bestimmt für 40 Euro kriegt. Wichtiger ist: Ich lese nicht ab. Ablesen ist ein Albtraum, man kommt da so dröge rüber. Das Schlimme ist, wenn Sie die erste Male in eine Kamera sprechen, dann sprechen Sie wie ein Tagesschausprecher, ganz automatisch. Und das muss man sich abtrainieren. Dass ich so frei sprechen kann wie in dem Hüft-Video, das ist das erste mal ein Video, wo ich sage: Damit bin ich zufrieden. Da hatte ich einen guten Tag. Da war ich gelöst.

 

Ich muss gestehen, mich hat Ihr Video sehr berührt, wo es um das Überbringen von schlechten Nachrichten geht. Sie bekennen eben öffentlich, dass Sie auch manchmal Rotz und Wasser heulen, wenn vor Ihnen ein Patient sitzt, dem man nicht mehr wird helfen können …

Wir sollten uns als Mediziner nicht wegdrehen, wenn es vielleicht mehr um den Tod als um das Leben geht, auch wenn das viele Kollegen so machen. Wir müssen versuchen auch dann Worte zu finden, wenn es besonders schwer fällt. Ich hab ja später in Wien studiert, war dort in der Uniklinik tätig und zu uns kamen manchmal so richtig die Bergbauern. Ich erinnere, wir hatten einen Patienten, der hatte ganz schlechte Chancen, wo man sich fragen musste: OP – wollen wir die machen oder nicht? 25 Prozent Letalitätschance. Da muss der Patient schon sagen, ob er es machen will oder nicht. Aber der Mann konnte das nicht. Der war furchtbar durcheinander, der hat überhaupt nichts mehr gecheckt, so ist das manchmal und das geschieht nie aus bösem Willen. Und unser Chefarzt, schnicke angezogen, goldene Knöpfe am weißen Kittel, was hat der gemacht? Der hat den so richtig in Arm genommen und in breitem Österreichisch gesagt: ‚Geh, Hubert, hörst‘: Was wir machen, ist ne harte Geschicht‘; schafft nur einer aus vieren, aber bei dir packen wir’s! Solln wir’s machen?‘

 

Und?
‚Ja, machen wir‘, hat der Hubert gesagt. Und so muss es sein.

 

Dr. Johannes Wimmer betreibt das Internetportal www.doktor-johannes.de

 

Erschienen in Taz Nord vom 19.4.2014