Den Schock zulassen

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Allgemein / Journal

Wie fassen, was nicht zu fassen ist? Wie zu verstehen suchen, was kaum zu begreifen ist? Das Handy weglegen, weniger Nachrichten schauen? Blicke auf die Webcam-Streams via Kiew und die Gedanken dazu.

Am Morgen nach der Redaktionssitzung vom ERNST sitze ich mit Ivo in seiner Küche, wir frühstücken, wir reden über den Krieg. Worüber sollen wir auch sonst reden. Warum ich mir das antue, via Webcam immer wieder auf das Panorama des von Zerstörung bedrohten Kiews zu schauen, wenn ich in meinem Büro vor dem Laptop sitze oder zu Hause, fragt er mich, ich hatte ihm davon immer mal wieder in unseren Emails erzählt. Warum tue ich das, warum will ich nicht rauskommen aus dieser Endlosschleife von trüben Gedanken, nicht endend wollenden Sorgen, warum meine ich virtuell anwesend sein zu müssen, was bringt es mir, er will es wissen, es ist ihm ganz ernst, er bohrt nach, er lässt sich nicht abwimmeln, nun denn.

Wie es angefangen hat? Es war 20 Minuten vor vier Uhr in der Frühe, an jenem 24. Februar, den man sich merken wird, als ich plötzlich wach bin. Draußen ist es noch dunkel, nirgendwo ist ein Fenster erleuchtet, kaum Verkehr auf der Straße vor unserem Haus, die zweigeteilt ist, in der Mitte stehen Bäume, eine Allee. Ich greife nach meinem Handy und lese die ersten, noch vagen Nachrichten über den Angriff der russischen Armee; lese, dass deren Einheiten die Grenze zum Nachbarland überschritten haben, dass der Krieg also da ist. Ich liege wach, poste ein schwarzes Quadrat auf Instagram und stehe gegen sechs Uhr auf, ohne noch einmal eingeschlafen zu sein, obwohl ich es versucht habe.

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Wir bleiben!

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Allgemein

Manchmal ist es schon viel, wenn man bleibt. Und nicht wieder geht. Zu Besuch bei den Lohmeyers, die in einem Nazidorf im Norden Ostdeutschlands leben.

Wo waren wir stehen geblieben? Bei Birgit Lohmeyers Entschluss, der Sozialdemokratischen Partei Deutschland beizutreten und dann für diese bei der anstehenden Kreiswahl und der Gemeindewahl zu kandidieren. «Bisher waren wir außerparlamentarisch unterwegs, nun will ich es mal anders versuchen», hatte sie gesagt, und ihr Mann hatte dazu genickt. Damals, zwei Jahre ist es her, hatte es geregnet, vom Morgen an, der Tag blieb trüb und nass. Doch dann gab es überraschend eine kurze Pause, wir waren hinter das Haus gegangen, durch das halbhohe, feuchte Gras. Die beiden hatten sich auf ihre Veranda gesetzt; von dort aus sieht man nichts vom Dorf, nicht die schwarz-weiß-rote Fahne, die hier beständig flattert, das Meer ist nicht weit. Nicht das Wandbild mit der stilisierten Familie: ein Mann, der schützend seine kräftigen Arme um eine Frau und drei ebenso blonde Kinder hält, darüber die Aufschrift «Dorfgemeinschaft Jamel, frei – sozial – national». Sie aber saßen von all dem abgewandt, erst auf den hölzernen Treppenstufen und dann in zwei Korbstühlen, sich leicht schräg gegenüber. Hinter ihnen ihr Haus, backsteinern, Fachwerk, eine ehemalige Försterei; dazu Anbauten, die einstigen Gesindekammern, Schuppen; dazu das Grundstück, 7500 Quadratmeter groß, begrenzt von Mischwald.

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„Ja, wo kommst du denn her?“

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Archiv

Ein Besuch im Ruhrgebiet bei Herrn Stemmann, beim Kurt und beim Pfarrer und bei der Schlaggemeinschaft der Richters und vor allem bei ihren Tauben.

Gestern Abend kam Herr Stemmann mächtig ins Schwitzen. Sass vor seinem Taubenschlag und zweifelte an der Welt. Wie konnte das sein, was war?


Herr Stemmann, Vorname Theo, ein grosser, schlanker Mann, eher kein Grübler, eher ein Zupacker, aber nicht kopflos dabei, alles andere als ein Hektiker, daher sitzt jeder Griff, Landwirt, Reiter auch, vor allem aber Taubenzüchter und Taubenfreund – und das war so: Er nahm nachmittags seine Jungtauben, die Einjährigen, also die von diesem Jahr, setzte sie in seinen Hänger mit den einzelnen Transportfächern und fuhr von Gelsenkirchen, wo er wohnt, rüber nach Recklinghausen, gut 25 Kilometer sind das. Parkte etwas ausserhalb der Stadt am Rande der Strasse, und liess seine Tauben fliegen, auf viertel vor Sieben stand die Uhr. Fuhr wieder heim, nahm sich einen Stuhl, setzte sich vor seinen Taubenschlag, um so ganz gemütlich zu schauen, wie seine Tauben zurückkommen würden, im grossen Schwarm, in kleinen Schwärmen, auch zu zweit zu dritt, nach einem ersten grossen Trainingsflug, dem weitere folgen sollen.
„Ich hab‘ bis neun Uhr dagesessen, keine Taube da“, sagt Stemmann und lässt die Schultern hängen. „Ich bin reingegangen, hab meine Eltern fertiggemacht, zwanzig nach neun bin ich wieder raus, da waren 13 Stück von 73 Stück eingetroffen.“
Ein Freund ruft zufällig an, auch ein Taubenkenner, beruhigt ihn, die würden schon noch kommen, nur Geduld. Und ein nächster Schwarm kommt, mit 24 Tauben, und Stemmann schöpft wieder Hoffnung: „Ich dachte, na, das sieht schon besser aus, denn ich dachte schon, na, jetzt musst du deine Jungen, die du gebunkert hast, aktivieren; die, die noch nie raus waren, denen einen Crashkurs verpassen, aber dann kamen noch ein paar.“ Der Stand heute Morgen: 50 Tauben.

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