Ein Besuch im Ruhrgebiet bei Herrn Stemmann, beim Kurt und beim Pfarrer und bei der Schlaggemeinschaft der Richters und vor allem bei ihren Tauben.
Gestern Abend kam Herr Stemmann mächtig ins Schwitzen. Sass vor seinem Taubenschlag und zweifelte an der Welt. Wie konnte das sein, was war?
Herr Stemmann, Vorname Theo, ein grosser, schlanker Mann, eher kein Grübler, eher ein Zupacker, aber nicht kopflos dabei, alles andere als ein Hektiker, daher sitzt jeder Griff, Landwirt, Reiter auch, vor allem aber Taubenzüchter und Taubenfreund – und das war so: Er nahm nachmittags seine Jungtauben, die Einjährigen, also die von diesem Jahr, setzte sie in seinen Hänger mit den einzelnen Transportfächern und fuhr von Gelsenkirchen, wo er wohnt, rüber nach Recklinghausen, gut 25 Kilometer sind das. Parkte etwas ausserhalb der Stadt am Rande der Strasse, und liess seine Tauben fliegen, auf viertel vor Sieben stand die Uhr. Fuhr wieder heim, nahm sich einen Stuhl, setzte sich vor seinen Taubenschlag, um so ganz gemütlich zu schauen, wie seine Tauben zurückkommen würden, im grossen Schwarm, in kleinen Schwärmen, auch zu zweit zu dritt, nach einem ersten grossen Trainingsflug, dem weitere folgen sollen.
„Ich hab‘ bis neun Uhr dagesessen, keine Taube da“, sagt Stemmann und lässt die Schultern hängen. „Ich bin reingegangen, hab meine Eltern fertiggemacht, zwanzig nach neun bin ich wieder raus, da waren 13 Stück von 73 Stück eingetroffen.“
Ein Freund ruft zufällig an, auch ein Taubenkenner, beruhigt ihn, die würden schon noch kommen, nur Geduld. Und ein nächster Schwarm kommt, mit 24 Tauben, und Stemmann schöpft wieder Hoffnung: „Ich dachte, na, das sieht schon besser aus, denn ich dachte schon, na, jetzt musst du deine Jungen, die du gebunkert hast, aktivieren; die, die noch nie raus waren, denen einen Crashkurs verpassen, aber dann kamen noch ein paar.“ Der Stand heute Morgen: 50 Tauben.
Herr Stemmann fährt los. Der Mercedes seiner Eltern muss mal wieder ausgefahren werden, will raus aus der Garage, wo er wettersicher steht. Er zeigt auf Flachbauten, auf Hausdächer mit und ohne Schindeln. Da war mal ein Taubenschlag, da einer, da auch. „Wird schwieriger, das mit den Taubenhalten“, erzählt er. Er weist auf Wiesen, auf denen seine Pferde stehen, dazu gepachtet; auf Felder, wo die Wintergerste wächst oder der Futtermais. Er zeigt auf adrette, feinpolierte Einfamilienhäuser, wo buntes Spielzeug weit verstreut im Garten liegt und das abends nicht weggeräumt wird, weil es genug davon gibt. Er sagt: „Wir hatten hier oben in Gelsenkirchen-Buer mal 500 Züchter, jetzt sind es vielleicht noch 40.“
Die man zusammenhalten muss. Wo man jeden mitnehmen muss, auch die Alten, also die ganz Alten, die nur noch Tauben halten, weil sie schon immer Tauben hatten, denn wenn du als Taubenzüchter deine Tauben aufgibst, dann ist es nicht mehr lang und es ist mit dir vorbei. Und wer will das schon und es muss ja auch nicht sein.
Jedenfalls die Nachbarn. Wenn die das kennen, das mit den Tauben, am besten von früher, weil das so war, das man Tauben hatte, weil besonders hier im Ruhrgebiet auf jedem zweiten Dach welche sassen, damit die Bergleute, wenn sie wieder am Licht waren, auch den Himmel für sich haben wollten, dann ist es gut. Wenn nicht, wird es schwierig. Dann wird nachgefragt, wegen dem Dreck, den Federn, den Milben und was da noch durch die Luft fliegt, unsichtbar, aber zu riechen oder mindestens zu ahnen oder sich wenigstens vorzustellen, Allergene beispielsweise.
Herr Stemmann fährt auf die Einfahrt vom Kurt, Nachname Koitka, 85 Jahre alt. Der aus seinem Haus kommt, mit rüber zum Taubenschlag geht, langsam und bedächtig, Schritt für Schritt. Ein bisschen unwirsch ist er vielleicht, was sich aber legt, als er in einem Taubenschlag aufrecht steht, von seinen Tieren erzählt und sich in ihrem Beisein warmredet.
12 Tauben hat er derzeit, die er fliegen lässt, die Arbeit muss zu schaffen sein, sonst hatte er meist 24 und auch mal mehr, mehr als 16 Stück sollen es aber nicht mehr werden und ob er jetzt beim Münchenflug mitmacht, eher wohl nicht. „Das geht nicht mehr“, sagt er, schliesst den Schlag wieder, streift die Sohlen der Hausschuhe ab, dass er nichts mitschleppt aus dem Schlag rüber ins Haus, wo Teppich liegt und er erzählt: „Ich wollte sie schon abschaffen, hatte einen Zusammenbruch, da war ich ganz weg von der Rolle, da wusste ich noch nicht mal mehr wie meine Kinder heissen, aber dann kam das so langsam wieder, da haben mich alle überredet, sie zu behalten, auch meine Frau, die sonst immer sagte ‚Weg wäre gut‘, aber nun meinte sie ‚Lass sie mal, damit du ein bisschen was hast‘ und das ist auch gut so.“ Und er schaut nach oben, in die Luft, in den Himmel, das werde man nicht mehr los, das schauen, ob da eine Taube fliegt und ob es eine ist, die zu einem gehört. Nebenan der Marokkaner oder ist es ein Iraker, der hat auch Tauben, die er aber einfach so fliegen lässt, die dann ringsum auf den Dächern sitzen und gucken, wenn die Tauben vom Kurt am Sonntagvormittag zurückkommen von ihren ordnungsgemässen Trainingsflügen und wissen, wo ihr Platz ist.
Das Geheimnis der Taubenzucht ist, dass es bis heute ein Geheimnis ist, warum die Tauben wieder zurückfinden. Auch wenn sie 300, wenn sie 700 oder 800 Kilometer von ihrem Schlag entfernt auf einer freien Wiese ausgesetzt werden, was im Taubenzüchterdeutsch „Auflassplatz“ heisst, finden sie zurück, landen wieder in dem Schlag, aus dem sie kommen. Warum sie sich nicht einfach in alle Winde verstreuen, nachdem sie wie in einer silberblauen Wolke himmelaufwärts stieben, die ersten Minuten noch eng zusammenbleiben wie Herr Stemmann mal kurz auf seinem Smartphone zeigt, warum sie sich nicht in irgendeinem Schlag niederlassen, an dem sie unterwegs vorbeikommen und wo es auch nett ist, so recht weiss man es nicht. Sondern man weiss eben aus Jahrzehnten erlebter Erfahrung, dass sie zielgenau dorthin zurückfliegen, wo man sie Stunden zuvor vorsichtig gegriffen und in eine der Transportboxen gesteckt hat, die am Ausgangsort synchron geöffnet werden: Bis zu 1.200 Tauben steigen dann gleichzeitig in die Luft und fliegen um die Wette ins jeweilige weitentfernte zuhause.
Natürlich gibt es Theorien, über das Zurückfinden. Irgendwas mit dem Magnetfeld der Erde, der Ausrichtung nach der Sonne, ein innerer Kompass, der in dem kleinen Taubenkopf sich so einstellt, dass der ihm gehorchende Taubenkörper genau den Kurven und Geraden folgt, die zu fliegen sind, dass es ohne grosse Umwege zurück geht, unten an einem Fuss der Ring mit den Daten, die automatisch abgelesen werden, wenn die Taube den heimische Schlag erreicht und dabei in der Einflugklappe das Feld mit der eingebauten Elektronikschleife passiert, auf die Sekunde genau wird erfasst, wann sie ihren Schlag passiert hat, früher musste man daneben stehen und alles per Hand aufschreiben: Ringnummer, Uhrzeit, und wenn mehrere Tauben gleichzeitig reinflatterten, da den Überblick behalten, also einfach war das nicht.
Was man schon eher weiss, ist, welches Wetter den Tauben zusetzt: Sturm natürlich, dann Gewitter. Schon Regen ist nicht gut; auch nicht, wenn der Wind ihnen entgegenbläst. Am besten also Rückenwind, blauer Himmel, klare Sicht und nicht zu heiss sollte es sein, dann geht alles gut. Wenn nicht Windräder, Hochspannungsleitungen oder Greifvögel dazwischenkommen.
Herr Stemmann ist weitergefahren, will bei Konrad Jeziorowski vorbeischauen. „Das ist ein Guter“, sagt er. Pfarrer, 1983 aus Polen ins Ruhrgebiet gekommen, das ja katholisch geprägt ist. Auch er in den 80ziger-Lebensjahren angelangt, längst ausser Diensten, eigentlich, aber entschieden hilfsbereit und selbstlos: „Wenn sich die jungen Kollegen einen gelben Schein holen, nur weil es draussen regnet, dann kommt eben er und beerdigt“, sagt Stemmann und fährt auf den Pfarrhof. Wo das Pfarrhaus steht, dass der Pfarrer bei der ersten besten Gelegenheit mit einem Spitzdach aufrüsten liess, in dem seitdem seine Tauben wohnen. Die er zusammen mit seinem Kumpel Hermann hält, eine häufig anzufindende Situation: zwei Männer, ein Schlag, eine Schlaggemeinschaft.
Und es geht unters Dach, steile Treppen führen hinauf, in den ungedämmten Spitzboden. Futter wird begutachtet, das in grossen Säcken bereitsteht, Tipps werden gegeben, wie der, Kräuterhefe in der Apotheke zu kaufen, wo es weit billiger ist als im Taubenfutterbedarfshandel, wo sie das Doppelte verlangen und die Versandkosten kommen ja noch dazu.
Die Münchenfahrt wird gestreift, über das anstehende 100-jährige Jubiläum ihres Vereins wird gesprochen, über die Chinesen. Denn wenn etwas den allmählichen Niedergang der hiesigen Taubenzucht vielleicht nicht rückgängig machen, aber zumindest deutlich verlangsamen kann, dann sind es die Chinesen.
„Die Chinesen sind ganz verrückt nach Tauben“, sagt Theo Stemmann, fünf-, sechsstellige Summen würden sie zahlen für Spitzentauben mit Spitzenleistung. Auch in diesem Sommer sei wieder einer hier in der Gegend unterwegs gewesen, ein Zwischenhändler, flankiert von Dolmetscher und Chauffeur. „Der fährt von Züchter zu Züchter, lässt sich nur die besten Tiere zeigen und wenn ihn eins interessiert, dann wird noch mal der Vater ins Bild gehalten, von dem es abstammt“, erzählt Stemmann, per Smartphone sei der Händler mit wichtigen Online-Auktionen verbunden, auch Stemmann hat schon an die Chinesen verkauft und es habe sich gelohnt.
Und dann die Halle, gross, geräumig, die dem Verein gehört, dem „Brieftauben e.V. Gelsenkirchen-Buer von 1919“. In einer Seitenstrasse gelegen, in einem kleinen Gewerbegebiet, in das Stemmann weitergefahren ist, ein schweres Rolltor vorneweg, man hört gleich, wie es ratternd hochgezogen wird, wenn demnächst der Lkw einfährt, der die Tauben südwärts bringt, bis runter bei München soll es diesmal gehen, der Höhepunkt des Jahres. Dann werden sie hier sitzen und auf dem Monitor verfolgen, wie nicht nur in Gelsenkirchen die Tauben wieder in ihren Schlägen eintreffen, sondern auch in Düsseldorf und drüben in Hamm, wo man mit den dortigen Vereinen und Reisegemeinschaften immer wieder Transportgemeinschaften bildet, nur die aus Essen machen mal wieder nicht mit. Aber auch so wird es noch mal voll werden, spätestens bei der Siegerehrung, dann kommen sie noch mal alle zusammen, in diese Halle, erbaut, also aufgestellt im fernen 1986, als die Zeiten noch gut waren, bevor sie schlechter wurden.
Das Gerüst, die Konstruktion haben sie sich damals liefern lassen. Aber alles andere – in Eigenarbeit geschafft. Gemauert, Strom gelegt, die sanitären Anlagen eingebaut und dann alles ordentlich gefliest. Taubenzucht ist Handwerk und so kann man auch sonst anpacken, jeder Mann eine Aufgabe, die mit grosser Ernsthaftigkeit erledigt wird, sonst mache das keinen Sinn.
Denn Taubenhalten und -züchten und das Taubentrainieren ist ein Sport, ist eine Leidenschaft, womit wir bei den Wettbewerben wären, den Meisterschaften, lokal, regional, überregional, bundesweit, mit ersten, zweiten und dritten Plätzen, die in verschiedensten Kategorien zu erfliegen sind. Wie Regionalverbandsmeister mit 37 Preisen und 2811,96 Ass-Punkten oder Jähringenmeister mit 54 Preisen oder Weibchenmeister mit 35 Preisen, Titel, die der Heinz Richter und sein Sohn Jörg und ihr Kumpel Michael Lipski unter anderem vorweisen können, eine SG, eine Schlaggemeinschaft wie beim Pfarrer, nur diesmal zu dritt. Im angebauten Wintergarten bei den Richters ist die Wand entsprechend gespickt mit Urkunden und Plaketten auf dunklem Holz, auf einem Regalbrett reiht sich ein Pokal an den anderen. Die drei seien sozusagen erste Liga, seien spitze, seien immer ganz vorne dabei, sagt Stemmann und senkt die Stimme, dabei ist auch er einer, der vorne mitmischt und das nicht zu knapp.
Über die Alttauben sprechen sie nun und über Zuchterfolge; über Tauben, die sie verloren haben, die sonst bis zu 18 Jahre alt werden können, wenn man sie lässt. Aber lange hält es sie nicht auf den Stühlen, sie müssen raus in den Garten, rüber zum Schlag, wo ihre Tauben gurren und warten, dass man nach ihnen schaut.
Doch irgendwann ist genug geredet, Herr Stemmann will langsam wieder los, auch die anderen haben zu tun, immer hat man genug zu tun und mehr als das, aber da ist noch eine Taube, die vorgezeigt werden will, deren Gefieder vorsichtig auseinandergezogen wird, damit sich zeigt wie schön die einzelnen Federn ineinander gefächert sind, wie schmal und vollgeformt die Brust ist, das Kraftzentrum der Taube. Und wenn das geschafft ist, wenn alle dastehen, jetzt Jacke an, die Autoschlüssel in der Hand, die halbleeren Kaffeebecher vorsichtig ineinander gestapelt, ein letzter Blick in den Himmel, was der Habicht macht oder der Sperber, wenn es doch kein Habicht ist, der da so aufmerksam über ihrem Schlag kreist und dann der Satz „Und von dem da, wer ist da der Vater?“
Und alles geht wieder von vorne los: Taube aus dem Schlag holen, sie dazu behutsam, aber entschlossen greifen, das Gefieder begutachten, ihr ins Auge blicken, soll man doch am Ring um die Iris herum die Klasse und das Potential des Tieres erkennen, dann „Das ist aber auch ein schönes Tier“ sagen und erst recht ins Erzählen kommen, so wie Theo Stemmann jetzt berichtet: „Ich hatte mal einen, der flog erst wie ein Eierarsch, sechs Touren nur zwei Preise und dann auf einmal fünf Stück in Folge, eine echte Kanone.“
Und dann ist er doch losgekommen, Theo Stemmann fährt auf seinen Hof, der der Hof seiner Eltern ist, den er nun führt, während er auf der gegenüberliegenden Strassenseite in seinem eigenen Haus wohnt. Steigt aus und streckt den Rücken durch. Und plötzlich, wie im Drehbuch, wie bestellt, wie abgesprochen, kommen aus dem Graublau des Himmels zwei Tauben auf ihn zugeschossen, drehen rechtzeitig ab, ziehen noch eine lange, geschmeidige Kurve, die eine biegt nach links ab, verschwindet, wird kleiner und kleiner, bald ein Punkt, der kaum noch zu orten ist, die andere aber landet auf dem First des Schlages, faltet die Flügel galant zusammen und ruckt einmal keck mit dem Kopf. „Na, wo kommst du denn her?“, ruft Herr Stemmann und eine grosse Zärtlichkeit liegt in seiner Stimme. Und die Taube schaut Herrn Stemmann an, und Herr Stemmann schaut die Taube an und dann macht die einen Hüpfer, trippelt zur Einflugklappe, trippelt über das Feld, das ihre Daten aufnimmt und speichert und schlüpft in den Schlag, segelt runter zum Futtertrog, fängt ohne Eile an zu picken, und jetzt ist alles gut.
„Die anderen werden nun auch nach und nach kommen“, sagt Stemmann. Und dass er ja eigentlich wüsste, dass manche Taube nachts irgendwo unterkommt, erst im Hellen weiterfliegt, denn morgens hätten sie einen klareren Kopf. Und nun kann er gehen, die Pferde füttern, die Boxen schliessen, seinen Eltern das Abendessen warmmachen und es ihnen hinstellen, sich zu ihnen sitzen, erzählen, was so war, tagsüber, als er weg war und auch, dass seine Tauben fast alle wieder da sind, gut 24 Stunden später.
Erschienen in ERNST #13
Foto: Frank Keil