„Aber sonst ist es ein schöner Beruf!“

Allgemein

Abends gehen wir zufällig vorbei. Sind auf der Suche nach einem kleinen Restaurant, das uns zusagt und gefällt. Uns ist nach Ruhe und in Ruhe reden, wenn möglich draußen, so angenehm warm, wie es noch ist. Wir gehen vom Stadtgarten aus die Stadthausstrasse entlang, queren sie, biegen ein in den Rathausdurchgang Richtung Marktgasse. Das Geschäft an der Ecke mit seinen hohen Fenstern ist geschlossen. Es ist ja schon 18.30 Uhr durch. Aber da sitzt er noch; bei schmalem Licht an seinem Platz hockt er, etwas tiefer hinter dem breiten Schreibtisch, links und rechts stapeln sich die Bücher, und er liest, was sonst.

„Ach ja“, sagt man in der Stadt, wenn man den Namen des Geschäfts nennt, wenn man beschreibt, wo genau es liegt, zentral eigentlich. Sagt entschuldigend, dass man es natürlich kenne, aber noch nicht drinnen gewesen sei, bisher nicht, man habe ja selbst zu Hause noch Bücher herumstehen, neulich geschenkt bekommen oder selbstgekauft, aber leider noch keine Zeit gefunden oder keine Gelegenheit gehabt, sie in die Hand zunehmen. Oder man sagt: ‚Das gibt es noch …‘ – und versucht das Fragezeichen nicht mitzusprechen. Denn wenn es in einer Stadt, in einer Stadt wie Winterthur kein Antiquariat mehr gibt, dann gute Nacht, Marie.

Weiterlesen

Zum Heldentum gezwungen

Allgemein / Journal

Seit wie vielen Tagen ist er jetzt – der Krieg? Was sehe ich, was meine ich dazu zu denken und was fällt mir ein? Teil 2 meines Journals, das fortgesetzt wird und das privat ist und eben nicht, weil der Krieg nie eine Privatsache ist.

Und wieder ist ein Tag geschafft, ich lese noch ein paar Seiten, der Wecker ist gestellt, ich nehme ein letztes Mal für heute mein Handy, scrolle mich durch die Nachrichten, auf die ich doch eben schon geschaut habe, ich klicke den Link für die Webcam an, die bewegungslos auf das nächtliche Kiew schaut und das so ruhig daliegt, und ich hoffe so sehr, dass es so bleibt, wenn ich schlafe und wenn ich wieder wach bin.

Am nächsten Morgen wird Konstantin Wecker im Radio interviewt, er gehört zu den 600 Erst-Unterzeichnern eines Appells, der sich gegen die Aufrüstung der Bundeswehr wendet, dabei geht es nach meiner Einschätzung eher um die Ausrüstung dieser, wenn man weiß, dass etwa die Hälfte der U-Boote der Bundesmarine besser nicht abtauchen sollte. Wecker ist gerade auf Tournee, er beginnt jeden Auftritt mit einem Friedenslied, danach trägt er sein Friedensmanifest vor. Meine Frau mahlt Kaffee, die Maschine ist sehr laut, ich verpasse den Anfang, die erste Frage, die erste Antwort. Aber schnell wird klar, dass sich der Moderator und Wecker alles andere als einig sind: Wecker beharrt auf die Kraft und Bedeutung der Friedensbewegung, er will dem Pazifismus keinesfalls abschwören, der Moderator fragt nach, was die Menschen in der Kellern der zerbombten Stadt Mariupol davon haben. Wecker wird laut und grob, herrscht den Moderator an, dass ihm diese Leute schon immer gefallen haben, die andere in den Krieg schicken, aber selbst warm und trocken etwa in einem Rundfunkstudio hocken. Der Moderator kontert: Ob sich Wecker in Moskau mit einem Plakat gegen den Krieg auf die Straße stellen würde, will er wissen. „Hatte der Wecker Corona, der klingt so anders?“, fragt meine Frau dazwischen. Das Interview geht bereits seinem Ende entgegen, und der Moderator will abschließend hören, was Wecker denn nun tut, also konkret, und Wecker antwortet er: „Ich mache etwas, das derzeit nur wenige machen, ich gebe dem Frieden eine Stimme.“

Weiterlesen

Den Schock zulassen

Schreibe einen Kommentar
Allgemein / Journal

Wie fassen, was nicht zu fassen ist? Wie zu verstehen suchen, was kaum zu begreifen ist? Das Handy weglegen, weniger Nachrichten schauen? Blicke auf die Webcam-Streams via Kiew und die Gedanken dazu.

Am Morgen nach der Redaktionssitzung vom ERNST sitze ich mit Ivo in seiner Küche, wir frühstücken, wir reden über den Krieg. Worüber sollen wir auch sonst reden. Warum ich mir das antue, via Webcam immer wieder auf das Panorama des von Zerstörung bedrohten Kiews zu schauen, wenn ich in meinem Büro vor dem Laptop sitze oder zu Hause, fragt er mich, ich hatte ihm davon immer mal wieder in unseren Emails erzählt. Warum tue ich das, warum will ich nicht rauskommen aus dieser Endlosschleife von trüben Gedanken, nicht endend wollenden Sorgen, warum meine ich virtuell anwesend sein zu müssen, was bringt es mir, er will es wissen, es ist ihm ganz ernst, er bohrt nach, er lässt sich nicht abwimmeln, nun denn.

Wie es angefangen hat? Es war 20 Minuten vor vier Uhr in der Frühe, an jenem 24. Februar, den man sich merken wird, als ich plötzlich wach bin. Draußen ist es noch dunkel, nirgendwo ist ein Fenster erleuchtet, kaum Verkehr auf der Straße vor unserem Haus, die zweigeteilt ist, in der Mitte stehen Bäume, eine Allee. Ich greife nach meinem Handy und lese die ersten, noch vagen Nachrichten über den Angriff der russischen Armee; lese, dass deren Einheiten die Grenze zum Nachbarland überschritten haben, dass der Krieg also da ist. Ich liege wach, poste ein schwarzes Quadrat auf Instagram und stehe gegen sechs Uhr auf, ohne noch einmal eingeschlafen zu sein, obwohl ich es versucht habe.

Weiterlesen