Zum Heldentum gezwungen

Allgemein / Journal

Seit wie vielen Tagen ist er jetzt – der Krieg? Was sehe ich, was meine ich dazu zu denken und was fällt mir ein? Teil 2 meines Journals, das fortgesetzt wird und das privat ist und eben nicht, weil der Krieg nie eine Privatsache ist.

Und wieder ist ein Tag geschafft, ich lese noch ein paar Seiten, der Wecker ist gestellt, ich nehme ein letztes Mal für heute mein Handy, scrolle mich durch die Nachrichten, auf die ich doch eben schon geschaut habe, ich klicke den Link für die Webcam an, die bewegungslos auf das nächtliche Kiew schaut und das so ruhig daliegt, und ich hoffe so sehr, dass es so bleibt, wenn ich schlafe und wenn ich wieder wach bin.

Am nächsten Morgen wird Konstantin Wecker im Radio interviewt, er gehört zu den 600 Erst-Unterzeichnern eines Appells, der sich gegen die Aufrüstung der Bundeswehr wendet, dabei geht es nach meiner Einschätzung eher um die Ausrüstung dieser, wenn man weiß, dass etwa die Hälfte der U-Boote der Bundesmarine besser nicht abtauchen sollte. Wecker ist gerade auf Tournee, er beginnt jeden Auftritt mit einem Friedenslied, danach trägt er sein Friedensmanifest vor. Meine Frau mahlt Kaffee, die Maschine ist sehr laut, ich verpasse den Anfang, die erste Frage, die erste Antwort. Aber schnell wird klar, dass sich der Moderator und Wecker alles andere als einig sind: Wecker beharrt auf die Kraft und Bedeutung der Friedensbewegung, er will dem Pazifismus keinesfalls abschwören, der Moderator fragt nach, was die Menschen in der Kellern der zerbombten Stadt Mariupol davon haben. Wecker wird laut und grob, herrscht den Moderator an, dass ihm diese Leute schon immer gefallen haben, die andere in den Krieg schicken, aber selbst warm und trocken etwa in einem Rundfunkstudio hocken. Der Moderator kontert: Ob sich Wecker in Moskau mit einem Plakat gegen den Krieg auf die Straße stellen würde, will er wissen. „Hatte der Wecker Corona, der klingt so anders?“, fragt meine Frau dazwischen. Das Interview geht bereits seinem Ende entgegen, und der Moderator will abschließend hören, was Wecker denn nun tut, also konkret, und Wecker antwortet er: „Ich mache etwas, das derzeit nur wenige machen, ich gebe dem Frieden eine Stimme.“

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Den Schock zulassen

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Allgemein / Journal

Wie fassen, was nicht zu fassen ist? Wie zu verstehen suchen, was kaum zu begreifen ist? Das Handy weglegen, weniger Nachrichten schauen? Blicke auf die Webcam-Streams via Kiew und die Gedanken dazu.

Am Morgen nach der Redaktionssitzung vom ERNST sitze ich mit Ivo in seiner Küche, wir frühstücken, wir reden über den Krieg. Worüber sollen wir auch sonst reden. Warum ich mir das antue, via Webcam immer wieder auf das Panorama des von Zerstörung bedrohten Kiews zu schauen, wenn ich in meinem Büro vor dem Laptop sitze oder zu Hause, fragt er mich, ich hatte ihm davon immer mal wieder in unseren Emails erzählt. Warum tue ich das, warum will ich nicht rauskommen aus dieser Endlosschleife von trüben Gedanken, nicht endend wollenden Sorgen, warum meine ich virtuell anwesend sein zu müssen, was bringt es mir, er will es wissen, es ist ihm ganz ernst, er bohrt nach, er lässt sich nicht abwimmeln, nun denn.

Wie es angefangen hat? Es war 20 Minuten vor vier Uhr in der Frühe, an jenem 24. Februar, den man sich merken wird, als ich plötzlich wach bin. Draußen ist es noch dunkel, nirgendwo ist ein Fenster erleuchtet, kaum Verkehr auf der Straße vor unserem Haus, die zweigeteilt ist, in der Mitte stehen Bäume, eine Allee. Ich greife nach meinem Handy und lese die ersten, noch vagen Nachrichten über den Angriff der russischen Armee; lese, dass deren Einheiten die Grenze zum Nachbarland überschritten haben, dass der Krieg also da ist. Ich liege wach, poste ein schwarzes Quadrat auf Instagram und stehe gegen sechs Uhr auf, ohne noch einmal eingeschlafen zu sein, obwohl ich es versucht habe.

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Wir bleiben!

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Manchmal ist es schon viel, wenn man bleibt. Und nicht wieder geht. Zu Besuch bei den Lohmeyers, die in einem Nazidorf im Norden Ostdeutschlands leben.

Wo waren wir stehen geblieben? Bei Birgit Lohmeyers Entschluss, der Sozialdemokratischen Partei Deutschland beizutreten und dann für diese bei der anstehenden Kreiswahl und der Gemeindewahl zu kandidieren. «Bisher waren wir außerparlamentarisch unterwegs, nun will ich es mal anders versuchen», hatte sie gesagt, und ihr Mann hatte dazu genickt. Damals, zwei Jahre ist es her, hatte es geregnet, vom Morgen an, der Tag blieb trüb und nass. Doch dann gab es überraschend eine kurze Pause, wir waren hinter das Haus gegangen, durch das halbhohe, feuchte Gras. Die beiden hatten sich auf ihre Veranda gesetzt; von dort aus sieht man nichts vom Dorf, nicht die schwarz-weiß-rote Fahne, die hier beständig flattert, das Meer ist nicht weit. Nicht das Wandbild mit der stilisierten Familie: ein Mann, der schützend seine kräftigen Arme um eine Frau und drei ebenso blonde Kinder hält, darüber die Aufschrift «Dorfgemeinschaft Jamel, frei – sozial – national». Sie aber saßen von all dem abgewandt, erst auf den hölzernen Treppenstufen und dann in zwei Korbstühlen, sich leicht schräg gegenüber. Hinter ihnen ihr Haus, backsteinern, Fachwerk, eine ehemalige Försterei; dazu Anbauten, die einstigen Gesindekammern, Schuppen; dazu das Grundstück, 7500 Quadratmeter groß, begrenzt von Mischwald.

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