Grobkörnig, schwarz-weiß

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Seit fünf Jahrzehnten lebt in Kiel die Filmgruppe Chaos. Und feiert die künstlerische Autonomie.

Draußen brummt die Stadt. In einem Hinterhof zu ebener Erde ein Arbeitsraum, ein verwinkeltes Archiv, eine Dunkelkammer und vor allem eine Küche. Neben uns eine 16-Milimeter-Kamera auf einem Stativ aufgebockt, schwarz und eisern und durchaus alt, aber auch wach und interessiert. „Ich bin 1973 geboren, die ‚Filmgruppe Chaos‘ gibt es seit 1975, ich kam Anfang der Nuller-Jahre hinzu“, stellt sich Rouven Stübe vor. Geheimnisumwittert sei die Gruppe gewesen, regelrecht mysteriös. Dazu ihre Filme zu den Kieler Hausbesetzungen und der Anti-AKW-Bewegung, er beobachtet sie aus der Ferne. Doch eines Tages fasst er sich ein Herz, schaut bei Karsten Weber vorbei. „Karsten hat mir alles erklärt, wir haben gequatscht bis morgens um drei, dann sind wir uns in die Arme gefallen“, erzählt er. „Da war endlich einer, der nicht nur Bilder machte, sondern der auch über Bilder sprach. Und die analoge Welt leuchtete.“ 

„Vati hat gefilmt, wie der Weihnachtsbaum aufgestellt wird und wie die Oma zu Besuch kommt“, erzählt nun Weber, Jahrgang 1960, von wiederum seinen Anfängen. Super Acht ist in den 1970er-Jahren das Medium der Stunde. Das Familienleben soll festgehalten werden. Vielleicht, weil schon bald klar wird, dass eine Scheidung keine Katastrophe mehr ist, sondern oft das Gegenteil. Da haben die Kinder Vatis Kamera übernommen. Klamauk, Parodien hätten sie anfangs gefilmt, erzählt Karsten. Das Material ist billig, drei Minuten eine Filmrolle, die entwickelt per Post nach Hause kommt. Aber man kann ja auch selbst entwickeln. Kann das Material bearbeiten, kommt auf Ideen, stellt alles auf den Kopf: „Das war wunderschön, dass man als Jugendlicher alles in der Hand hatte“, sagt er. Und während man heranwächst, will man irgendwann zeigen, was man gefilmt und geschnitten hat. Auch das von Wesensverwandten: Eine Filmgruppe aus Köln etwa lässt ihr Filmmaterial von Mikroben und Pilzen bearbeiten, was noch mal ganz andere Bildwelten zeigt. „Das hat uns den Kopf durchgespült“, strahlt Weber. Ein Jahr lang betreiben sie in ein Super-Acht-Kino. Zeigen wildes Zeug auf ihre Art.
„Wir haben etwa einen Filmabend gemacht, erstmal drei Minuten Straßenschlacht mit der Polizei beim Reagan-Besuch in Berlin, danach drei Minuten Stan Laurel & Oliver Hardy, da waren die Leute schon mal irritiert“, erzählt Weber. Es folgt ein maximal billiger dänischer Porno, und als die drei mal drei Minuten um sind, richten sie wattstarke Strahler auf das Publikum und filmen es. Solche Sachen machen sie und sitzen bald zwischen allen Stühlen. Weber sagt: „Wir haben schnell gemerkt, dass die Revoluzzer gar nicht so revolutionär waren, sondern ziemlich langweilige Gesellen, ging es um Kunst.“ Später drehen sie auch auf 16 Millimeter.

Was ihre Radikalität bewahrt, auch schützt: Ihre Filmleidenschaft soll nicht in einem Beruf münden. Mit der Filmindustrie, auch der alternativen wollen sie nichts zu tun haben. Sie suchen sich bewusst so genannte normale Jobs. „Ich bin gern dahin gegangen, wo es fies und schmutzig ist; ich habe am Fließband gearbeitet, war auf Montage oder drüben auf der HDW-Werft.“ Er wird Industrie-Elektriker. Und filmt nebenbei und oft ist es ebenso umgekehrt. „Miete zahlen, Kinder großziehen, das muss ich anders schaffen. Autonomie ist eine Bedingung, um radikal sein zu können“, springt ihm Stübe bei. Etwas filmisch erzählen, wie man es unbedingt erzählen will und das Herauszufinden ist die Aufgabe und nicht, dass es zum NDR passt.

Die Gruppe löst sich zwischendurch fast auf, es gibt Krach, der heftig ausgefallen sein muss. Die Worte ‚schmerzhaft‘ und ‚richtig schlimm‘ fallen. Manche gehen einfach so. Um doch, wenn ein nächstes Projekt realisiert wird, was Jahre an Vorlauf bedeuten kann, wieder da zu sein und zu unterstützen. ‚On-off-Zusammenarbeit‘ nennt Weber das.
Sind sie erfolgreich gewesen? Jedenfalls waren sie in China unterwegs und haben ihre eigensinnigen Kurzfilme auf Dorfplätzen ebenso gezeigt wie in Hörsälen vor Hunderten von Studenten, die zum Schauen verpflichtet waren. Sie haben ihre Arbeiten auf einem Film-Festival in Sibirien präsentiert, sie haben eine Kurzfilm-Tour durch Italien absolviert und schwärmen von den Film-verrückten Italienern. Um nur drei Projekte zu erwähnen.

Klar, TikTok, YouTube, die Kamera im Handy: „Wenn ich heute Jugendlichen einen alten Film zeige, dann kriegen die die Krise, weil der so langsam geschnitten ist“, sagt Stübe. „Wir werden die Entwicklung nicht aufhalten“, sagt er noch. Wenn sie die digitale Welt betreten, dann nur um ihre Schätze zu zeigen. So gibt es manches auf der Filmplattform Vimeo: „Film – Entwicklung – Bearbeitung – in der Chaos Küche“ etwa, ein anrührender Zwölf-Minüter, wo die beiden in ehrlicher Schlichtheit zeigen, wie aus einer Filmrolle ein Film werden kann.

Nebenan in einem kleinen Raum haben sie entsprechend auch das Filmmaterial für ihre neueste Produktion eigenhändig entwickelt. „Jeder ist verantwortlich“, ein Dokumentar-Film über Lutz Taufer, einstiges Mitglied der RAF. Rau, grobkörnig und in schwarz-weiß. Auch die Erzählweise ist anders als der übliche Feature-Mus: Taufer spricht seinen Werdegang, immer wieder bildlich überlagert von abgefilmtem Material aus der 68er-Ära; Film im Film als Film, auch darum geht es. Und das erste (und letzte) Mal an diesem Abend wird Weber ein wenig mürrisch: Er hat den Film für die Experimental-Sektion der Berlinale eingereicht, aber man habe ihn abgelehnt, weil: zu konventionell. Er schnaubt durch die Nase. Zu konventionell! Dolles Ding. Will jemand etwas trinken?
Und weiter geht es durch die Jahre, da war ihr kurzer Ausflug in die Videowelt und ihre Begegnung mit dem Exploding Cinema drüben in London, wo auf Filmabenden jeder alles zeigen konnte und niemand vorsichtete. Projektoren stapeln sich in einem Regal, da ist der Schnittplatz, groß und breit wie ein Cockpit, da sind all die Filmrollen aus all den Jahren, verständlich, dass man hier versinken und versacken kann. Also jetzt besser gehen! Kann sonst sein, dass es spät wird, sehr spät und man sich am Ende in den Armen liegt. Dem Chaos sei Dank.

Leicht gekürzt erschienen am 17.4.2025 in der Taz Nord. 
Bebilderung: Filmgruppe Chaos.