Selja Ahava: „Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm“. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Mare Buch, Hamburg; 224 Seiten, 20 Euro
I.
Man kann es sich ganz einfach machen und jetzt schreiben: „Der Roman ‚Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm“ von Selja Ahava erzählt von der Alzheimererkrankung einer gewissen Anna, die am Ende ihres Lebens angekommen in einem Altenheim wohnt und dort von Gott in Strümpfen besucht wird, der mit ihr einen letzten Spaziergang unternimmt“. Damit würde sich dieses Buch mühelos einreihen lassen in eine Flut anderer Romane, in denen deren Protagonisten an Alzheimer erkranken – zum Schrecken und Erschrecken ihrer Zeitgenossen, also auch uns. Denn wenn es etwas gibt, das uns derzeit so sehr in Panik und eben Schrecken versetzt, dann die Vorstellung, all dass, was wir ein Leben lang an Informationen, Erfahrungen und Eindrücken sammeln und für das wir mittlerweile eine hochtechnologische Speicherindustrie entwickelt haben, könnte sich am Ende in ein Wirrwarr von letzten, immer brüchiger werdenden Gedanken und dann Halbsätze und dann voneinander isoliert dastehenden Worten auflösen. Download fehlgeschlagen, sozusagen. Festplatte – leider leer. Keine Daten mehr lesbar; wirklich nicht. Und dafür haben wir all diesen Aufwand betrieben? Haben uns ständig geschult und gelernt und gelernt, damit wir auch das nächst neue Medium beherrschen, während früher (ach, ja, früher) ein Fotoalbum reichte, ein Diakasten, ein Stapel zusammengebundener Briefe und vielleicht das gute alte Tagebuch.
Anna ist in dieser Zeit aufgewachsen. Anna liebt die Worte, die Bedeutungen, die sie aussprechen; sie schätzt die Beobachtungen in der Natur, sie mag es durch den Wald zu wandern, auch im so genannten hohen Alter noch – wo sie im Wald eine tote Frau entdeckt, erfroren sei sie, wie sie der Polizistin berichten kann, die so ihre Zweifel hat, dass eine wie Anna noch alle ihre sieben Sinne zusammen hat, dabei hat sich Anna eines fest vorgenommen: „Verrückt will ich nicht werden.“ So lernen wir Anna kennen.
II.
Anna ist nicht alleine auf der Welt. Anna hat lange Antti. Mit ihm teilt sie die Liebe und auch die Liebe für die Worte und die genauen Formulierungen, auch die Beobachtungen, denn Antti, der Filmemacher, der gründliche, schaut in das Leben anderer Leben, wenn sie ihn lassen. Wie Iwan, das Wolfskind, das sprechen lernen wird, sprechen wie Antti und Anna, denn der Mensch will mit anderen Menschen sprechen, wenn er ihnen begegnet und dann unter ihnen sein will. Aber dann ist Antti tot. Ist nicht mehr da, ist weg, kommt nicht mehr wieder, auch nächstes Jahr nicht, das verstreicht, ohne dass Anna etwas dagegen unternehmen kann, ein erstes Jahr ohne Antti, dem weitere folgen. Wie soll man das aushalten – und wie soll Anna das aushalten, die sich so auf ein langes, ein langjähriges Leben mit Antti gefreut hat, zusammen mit Kindern, ihren Kindern und Anttis Kindern, denn das ist mit der Sinn von Anna und Antti, dass etwas von ihnen bleibt, später einmal. Aber nun ist da Anttis Stimme, die vertraut ist und vertraut klingt und die Anna Halt gibt und die macht, dass es nun zwei Welten gibt: da, wo Anna wohnt, auf einer Insel und wo Antti fehlt und eine, wo Anttis Stimme spricht, mit Anna. Kann man es ihr verübeln, dass sie in der einen Welt lieber lebt als in der anderen?
III.
Und dann ist da Thomas, später. Thomas aus London; Thomas der Engländer. Denn Anna will noch einmal neu anfangen und wird noch einmal neu anfangen mit dem Leben, will sich nicht geschlagen geben und Thomas ist ein echter Halt in diesem neuen, durchaus aufregenden Leben, in einer Wohnung in einer Straße, die High Street heißt, neben den Wohnungen anderer Paare, mit und ohne Kinder. Dort will Anna glücklich werden und ist auch glücklich – wenigstens am Anfang. Aber dann geht Anna spazieren, geht hinaus in die Welt und etwas passiert, dass Anna nicht erklären wird können, nicht logisch ableiten kann sie es – nur wird sich Thomas wundern, dass er Anna im Kleiderschrank wiederfindet, wo Annas Kinder an der Kleiderstange hängen, und sie heißen: Ahti Joonas, Piia Pampula, Kerttu Kirsikka, Eino Oskari, Liina-Liina und Viu-Viu nicht zu vergessen.
Vier Stunden hockt Anna im Kleiderschrank. Nicht alleine, sondern eben mit ihren Kindern. Was Thomas nicht so recht versteht, aber muss man alles verstehen? Und das Leben geht weiter, Weihnachten kommt, die Feiertage, die vorbeiziehen werden, wie sie immer vorbeiziehen und wo die alten Lieder gesungen werden und Anna wird ein Lied singen, ein finnisches Lied, wie die Wichtelmännchen eben Weihnachten vorbereiten. 43 Jahre alt ist Anna da, zu spät ist es für Kinder, eigene Kinder und Antti fällt ihr ein und die Insel, aus Granit, massiv und stark und unwiderlegbar und die Bäume stellen sich ihr entgegen und sprechen auf ganz eigene Weise zu ihr und Thomas fragt: „Sollte man wegen so etwas nicht zum Arzt gehen?“
IV.
Meinetwegen kann man Selja Ahavas Roman „Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm“ als einen Roman über eine Alzheimererkrankung erst lesen und dann deuten. Das schadet ihm nicht. Andererseits verpasst man dann etwas: Man verpasst die vielen Zwischentöne und noch mehr die Zwischenthemen, die in diesem Buch ausgelegt sind wie in einem wunderbar geknüpften Netz, in dem es Spaß macht sich zu verheddern. Denn dann merkt man von Seite zu Seite mehr, dass dieser Roman immer auch davon erzählt, dass sich unsere Lebensträume auf ganz eigene Weise Bahn brechen, wenn wir dazu bereit sind, ihnen eine Stimme zu geben, sollte diese am Ende des Lebens auch versiegen. Und so kämpft Anna nicht nur gegen das Vergessen, gegen das Versiegen der Worte, was vordergründig helfen mag, den Schmerz, den das Leben nun mal für uns bereit hält, vielleicht ein wenig besser zu ertragen. Sie beharrt auf ihre Erlebnisse, auf das, was für sie wahr ist und was geschehen ist, vielleicht; früher einmal. Anna schafft es so am Ende sich eine eigene Welt zu schaffen, die zunächst ungewohnt und fremd für uns sein mag. Aber wenn wir ein bisschen aufmerksam sind, ein bisschen träumerisch veranlagt, dann können wir merken: Es ist wohnlich in ihr, es ist Platz auch für Antti und für ihre und Anttis sechs Kinder. Und wenn Gott kommt, ganz am Ende, dann wird es gut werden. Denn Gott hat nicht nur Zeit, Anna zuzuhören, was immer Anna auch Verwirrtes und Verwirrendes erst ihm und dann uns zu erzählen hat. Gott hat auch ein Ruderboot. Frisch geteert hat er es. Und so wird es während der langen Überfahrt, wohin auch immer, nicht leck schlagen.
Erschienen in „Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen 2014