Eine Begegnung mit dem argentinischen Schriftsteller Patricio Pron. Dessen Eltern waren so gar nicht begeistert, als er sich hinsetzte und einen Roman über seine Kindheit während der Militärdiktatur schrieb
Nach unserem Gespräch bringt mich Patricio Pron nach unten zurück in die Lobby. Die Türen des Fahrstuhls haben sich auf die gewohnt sanfte Weise noch nicht ganz geschlossen, als er sich entschuldigt: Es sei heute keiner seiner guten Tage gewesen. Die Medikamente, die Drogen … er hebt bedauernd die Schultern: Mit den Folgen müsse er leben und an manchen Tagen sei er eben konzentrierter und an anderen nicht so sehr, es täte ihm leid, er hoffe, dass ich mit dem Gespräch trotzdem etwas anfangen könne. Währenddessen rauscht der Fahrstuhl nach unten, vom vierten Stock ins nahezu gläserne Erdgeschoss.
Es war der Titel seines Buches, der mich zu diesem greifen ließ: „Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf“. Dabei habe ich keine Ahnung von argentinischer Literatur, ich weiß überhaupt sehr, sehr wenig von diesem Land. Nur dies und das, klischeehaftes, aus dem Fernsehen.
Nun aber lese ich gebannt sein Buch, dass von seiner Begegnung mit seinem Vater erzählt, der seinerseits sich aufmacht zu erkunden, warum damals zu Zeiten der Militärdiktatur einer seiner einstigen Mitschüler starb und warum dessen Schwester spurlos verschwand. Der Text ist wunderbar präzise geschrieben, ich fliege nur so durch die Seiten (um mal eine Metapher zu bemühen). Als sein Verlag ein paar Wochen später mitteilt, das der Autor in meiner Stadt sei und Interviews anbiete, greife ich zu. Es ist vom Kalender her Hochsommer, aber es ist ungewöhnlich kalt; Wind pfeift durch die ohnehin unwirtliche Gegend in der Hamburger Innenstadt, wo er für eine Nacht in einem der dortigen gesichtslosen Hotels untergekommen ist.
„Ja, die Kälte“, lacht er zur Begrüßung. Er kenne sie gut, er habe schließlich lange genug in Deutschland gelebt. Wir setzen uns auf etwas zu niedrige Sessel, ich lobe sein Buch – nicht aus Taktik, nicht um eine passende Gesprächsatmosphäre herzustellen, sondern weil es mir wirklich äußerst gut gefällt und warum soll ich das nicht sagen. „Oh, Danke“, sagt er, er schaukelt mit dem Oberkörper kurz hin und her, sagt dann, dass es nicht einfach gewesen wäre dieses Buch zu schreiben und das alles, was in diesem Buch beschrieben ist, tatsächlich passiert sei, auch wenn das Buch „Roman“ genannt wird.
Patricio Pron spricht mit recht leiser Stimme, er sieht mich selten an, sein Deutsch ist perfekt, es gibt ein paar grammatikalische Besonderheiten, was ich immer mag: wenn man hört, dass jemand aus einem anderen Sprachreich kommt. Er setzt immer wieder lange Pausen, verliert aber nie den Faden. Erzählt, das alles es ihm alles andere als leicht gefallen sei, dieses Buch zu schreiben, dass er aber dieses Buch habe schreiben müssen und das seine Eltern entschieden dagegen gewesen wären, dass er dieses Buch schreibt, in dem sie selbst und er als ihr Kind die Hauptrollen spielen.
Lange ringt er mit der Idee dieses Buch zu schreiben, es nicht zu schreiben. Lange weiß er nicht, ob er von seinem Vater ein Gespräch über die Jahre seiner Kindheit, seiner Jugend einfordern soll, es nicht einfordern soll. Er sagt: “ Aber als mein Vater dann geboren war, war mir klar, dass ich nicht so viel Zeit hatte, diesen Dialog zu fordern.“
Er sagt tatsächlich ‚geboren‘ und mich fasziniert dieses falsche Wort, denn tatsächlich war damals sein Vater natürlich nicht geboren, sondern lebensgefährlich erkrankt – also so ziemlich das absolute Gegenteil.
Etwas vergleichbares ist auch mir passiert: Gleich zu Beginn des Romans erzählt Pron, wie er als junger Student in Deutschland ist (in Göttingen), wie er sich mit Hilfe von Antidepressiva durch den Tag zu retten versucht und wie er in seiner Not einen Psychiater aufsucht. „Ich weiß noch, dass er eine leichte Glatze hatte und mich jedesmal zu wiegen pflegte, wenn ich zur Behandlung erschien, was ungefähr einmal im Monat geschah.“, so steht es im Text. Ich las das, aber verstehe etwas anderes: dass ihn nämlich dieser Psychiater, dessen Namen er sich interessanterweise nicht merken kann, wie ein Kind in seinen Armen wiegt. Dabei ist etwas komplett anderes gemeint: „Wiegen“ im Sinne von ‚auf eine Waage stellen und das Körpergewicht messen, also kontrollieren‘, nichts anderes. Aber auch jetzt will sich das Bild eines jungen Mann, der in den Armen eines älteren Mannes liegt und sanft geschaukelt wird, nicht ganz von meiner Seite weichen.
„Sie waren ein Jahr alt, als in Argentinien das Militär die Macht übernommen hat“, sage ich. „Ich war das, was im Roman als eine Minute bezeichnet wird. Alle Menschen meines Alters, die ich treffe, frage ich: Wann sind Sie geboren?“, antwortet er.
Seine Eltern gehören einer kleinen, oppositionellen, linken Gruppe an, die aber die Option des bewaffneten Widerstandes ausschlägt. So bleibt ihnen und also auch seinen Eltern nur die Möglichkeit des inneren Exils, geprägt von der Angst, eines Tages könne man sie entdecken, sie verhaften, foltern, töten – so wie es das Militär mit Tausenden von seinen Gegnern gemacht hat. Diese Angst legt sich die ersten sieben Jahre seines Lebens wie ein Tuch über die Familie, über die Zeit, in der er aufwächst: „Es war komisch, aber es war so: Alles war mit einer Angst verbunden, die für uns Kindern unerklärlich war. Wir hatten alle diese Sicherheitsmaßnahmen: Die Familie hatte in der Öffentlichkeit einen anderen Namen. Wir konnten keine Freunde nach Hause einladen; keine Kinder, mit denen wir befreundet waren, haben uns besucht.“
Der Junge richtet sich in dieser Kindheit ein, was bleibt ihm übrig. Bis er sich schreibend von den Angstschatten befreit. Patricio Pron sagt: „Ich kann diesen Raum verlassen und alles, was in diesem Raum steht, genau nacherzählen. Dass ich jetzt mit dem Rücken zum Fenster sitze, ist etwas, das ich lernen musste. Ich musste lernen, dass keine Gefahr besteht, wenn ich so sitze, mit dem Rücken zum Fenster.“
Als junger Mann geht er wie gesagt nach Deutschland, aber seine Verwirrung, seine Verstörrtheit nimmt eher zu. Er lernt Deutsch, er sucht eben jenen, schon erwähnten namenlosen Psychiater auf, er vertieft sich in die deutsche Literatur, auch in die deutsche Geschichte, wird mit der Zeit des Nationalsozialismus vertraut.
„Wissen Sie“, sagt er: „‚Vergangenheitsbewältigung‘ ist ein Begriff, der so deutsch ist, dass es gar keine Übersetzung ins Spanische gibt. Im Spanischen muss man umschreiben, was es bedeutet, während sie hier in Deutschland dieses eine Wort haben und alle wissen sofort, was gemeint ist.“
Dann holt er tief Luft und erzählt etwas, dass er bisher noch nicht erzählt habe, es sei ihm bisher zu persönlich gewesen: „Als ich in Deutschland war, besuchte ich mit einer Freundin deren Großeltern, die in einem Altersheim lebten. Es waren zwei sehr liebevolle Menschen, wie aus den alten Filmen: Die Oma kochte Tee und der Opa holte Kekse und deckte den Tisch. Nach dem Besuch, wieder auf dem Weg nach Hause, erzählte mir diese Freundin, was ihre Großeltern im Dritten Reich gemacht hatten.“
Wir schweigen beide eine längere Zeit. Dann finden wir – ich weiß nicht mehr, ob er oder ich den Faden aufnimmt – noch mal zu dem Buch zurück und langsam endet unser Gespräch. Er sagt: „Manchmal habe ich den Eindruck, dass es die Aufgabe jeder neuen Generation ist, eine Linie auf dem Wasser zu zeichnen. Man zeichnet diese Linie, obwohl man weiß, dass diese Linie schnell verschwinden wird. Aber mit der Sicherheit, sobald diese Linie verschwunden ist, die das Böse von dem Guten trennt, kommt eine neue Generation, die das noch mal zeichnet.“
Patricio Pron
Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Rowohlt Verlag, Reinbek; 220 Seiten, 18,90 Euro
Erschienen in „Switchboard – Magazin für Jungem- und Männerarbeit“, Ausgabe Winter 2013/14